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Archiv-Artikel

EMPFÄNGER VON ARBEITSLOSENGELD II SOLLTEN KEINE BRILLE BRAUCHEN Von Merkel nichts zu befürchten

Das Berliner Sozialgericht entschied gestern, dass pro Monat ein Arbeitslosengeld II (ALG II) von 345 Euro im Westen und 331 Euro im Osten Deutschlands nicht gegen die Menschenwürde verstößt. Auch die nach den jüngsten Sozialreformen nötigen Gesundheitszuzahlungen und die private Altersvorsorge könnten davon bestritten werden. Bereits im Februar hatte das Sozialgericht Münster ähnlich geurteilt: Es beschied einem 59-jährigen Arbeitslosen, er müsse von 345 Euro ALG II auch seine Brille für 100 Euro bezahlen. Ein Leben von 245 Euro im Monat sei möglich. Schließlich bekämen Asylsuchende auch bloß 225 Euro.

Auf diese Weise werden noch viele Klagen von Arbeits- und Hilfesuchenden vor Gericht enden, und am Schluss wird immer eine Zahl stehen: der Monatssatz, von dem jemand leben können muss. Es bleibt den Sozialrichtern überlassen, die Unterseite der rot-grün-schwarzen Sozialreformen zu beleuchten. Man darf davon ausgehen, dass die Reformpolitiker dies bewusst einkalkulieren. Keiner will öffentlich mit klaren Zahlen belegen, dass 345 Euro nicht etwa das Minimum sind, sondern dass Kürzungen bei Arbeitsunwille und Zusatzbelastungen bei Fehlsichtigkeit, wie beim Münsteraner Kläger, durchaus eingeplant sind.

Die rot-grüne Koalition hat noch nicht einmal das Versprechen eingehalten, anhand der jüngsten Verbrauchsstatistiken eine Erhöhung des Regelsatzes vorzubereiten. Groteskerweise begründen SPD wie Grüne dies nun damit, dass sie sich verrechnet haben. Denn die Arbeitsmarktreform Hartz IV kostet in diesem Jahr allein bis zu zehn Milliarden Euro mehr als gedacht – und weil irgendwer das Geld ja einstecken muss, kann es nicht allen schlechter gehen. Anders gesagt: Behelligt uns nicht mit armen Schweinen, die von 250 oder 280 Euro nicht leben wollen, solange wir nicht wissen, wo die Milliarden sind.

Nach diesem Motto wurden bislang auch sämtliche Sozial- und Wohlfahrtsverbände von der Regierung abgespeist. Ihnen war ein fairer „Monitoring-Prozess“ zur Agenda 2010 versprochen worden, letzte Hoffnung auch manches Sozialpolitikers.

Gestern waren die Wohlfahrtschefs beim Kanzler, um auch ihm vom Ergebnis zu berichten: Pflegebedürftige in Heimen, die ohnehin nur noch ein paar Dutzend Euro Taschengeld haben, müssen die jetzt Anfang des Jahres nicht mehr komplett für Windeln und Medikamente ausgeben. Stattdessen werden ihnen 3,45 Euro im Monat abgezogen.

Menschen, die auf solche Verbesserungen angewiesen sind, haben jedenfalls von einer schwarz-gelben Bundesregierung auch nicht mehr zu befürchten. ULRIKE WINKELMANN