: Kinder, im Sand vergraben
Sabine H. hat ihre toten Kinder zuerst auf dem Balkon ihrer Wohnung gelagert. Dort saß sie gern, um ihnen nahe zu sein
AUS BRIESKOW-FINKENHEERDBARBARA BOLLWAHN
Das Unfassbare verbirgt sich hinter einem grau angeputzten unscheinbaren Zweifamilienhaus in der Bahnhofstraße 22 in Brieskow-Finkenheerd, einem kleinen Ort wenige Kilometer südlich von Frankfurt (Oder). Die Rollläden sind herunter, ein rot-weißes Absperrband hält Schaulustige fern. Hier auf dem weitläufigen Gelände hinter dem Haus, auf dem mehrere unverputzte Garagen stehen, haben am Sonntag vierzig Bereitschaftspolizisten einen grausigen Fund gemacht. Nachdem ein Verwandter beim Aufräumen kleine Knochen gefunden und die Polizei informiert hatte, fanden die Beamten die sterblichen Überreste von neun Babys.
Die Leichen lagen in sandgefüllten Blumenkästen, im Kiesboden eines Aquariums und in mit Erde gefüllten Plastikeimern. Tatverdächtig ist Sabine H., eine 39-jährige arbeitslose Zahnarzthelferin, die seit 1985 in Frankfurt (Oder) lebt und offenbar nur selten ihre Mutter und ältere Schwester, die in dem Haus wohnen, besucht hat. Am Montag erging gegen Sabine H. Haftbefehl wegen des Verdachts auf neunfachen Totschlag, sie sitzt in Untersuchungshaft und ist teilweise geständig.
Gestern gab Staatsanwältin Annette Bargenda in Frankfurt (Oder) bekannt, dass Sabine H. die Geburten zwischen 1988 und 1998/99 eingeräumt hat, sich aber nur an die ersten zwei genauer erinnern kann. Bei allen späteren habe sie sich bei Einsetzen der Wehen so stark betrunken, dass sie erst nach dem Verscharren der Leichen in den Töpfen wieder voll zu Bewusstsein gekommen sei. Die Gefäße habe sie anfangs auf den Balkon ihrer verschiedenen Wohnungen aufbewahrt.
Das erste dieser Kinder habe sie in Frankfurt (Oder), das zweite in Goslar geboren. Dieses habe sie dann tot nach Frankfurt (Oder) gebracht und in einem Blumenkübel versteckt. Nach eigenen Angaben zog es Sabine H. anfangs immer wieder auf den Balkon, um ihren Kindern nah zu sein. Erst später habe sie diese unbeobachtet auf dem Gelände ihrer Mutter in Brieskow-Finkenheerd abgestellt.
Sabine H. hat drei Kinder im Alter von 18, 19 und 20 Jahren, die bei ihrem geschiedenen Mann leben. Dieser Mann solle auch – so Sabine H. – der Vater der toten Kinder sein. Er sei ebenfalls von der Staatsanwaltschaft vernommen worden und habe angegeben, von alldem nichts bemerkt zu haben. Das sagten auch die volljährigen Kinder aus.
Staatsanwältin Bargenda sagte, dass Sabine H. bei der Vernehmung einen ruhigen und gelösten Eindruck gemacht habe und froh sei, dass nun alles herausgekommen sei. Sabine H. werde psychologisch untersucht, doch Anhaltspunkte für eine Störung gebe es nicht. Die Kinder aus erster Ehe haben sich nach Angaben der Staatsanwältin in all den Jahren normal entwickelt.
Anders ist es mit der jüngsten Tochter, die bei Sabine H. und deren jetzigen Mann, dem Vater des Kindes, in Frankfurt (Oder) aufwächst. Anwohner haben am 21. Juni dieses Jahres wegen ruhestörenden Lärms die Polizei gerufen. Sabine H. sei damals sehr alkoholisiert gewesen und das Mädchen habe einen verwahrlosten Eindruck gemacht. Die Polizisten haben die Tochter für den Abend der Großmutter übergeben und Anzeige wegen Verletzung der Fürsorgepflicht erstattet. Diese Anzeige sei noch in Bearbeitung. Die gemeinsame Wohnung wurde gestern erstmals durchsucht. Die Polizei habe aber derzeit keine Hinweise auf weitere versteckte Leichen.
In Brieskow-Finkenheerd selbst wird seit dem Bekanntwerden der Nachricht am Montag nach Antworten gesucht. Der Bürgermeister kommt am Dienstagmorgen kurz nach neun Uhr in die Clubgaststätte des Sportvereins „SV Turbine“. Die liegt nur wenige Meter von dem Haus entfernt, in dem Sabine H. aufgewachsen ist und wo die Babyleichen gefunden wurden. Ralf Theuer, seit 1998 für die PDS ehrenamtlicher Bürgermeister, hat nur wenige Stunden geschlafen. Der 49-jährige arbeitslose Maschinenbauer stellt sich hinter den Tresen und zapft ein Bier. Er spricht nicht von Verbrechen oder Mord. Er sagt kopfschüttelnd: „Das Ding habe ich am Montagnachmittag um drei erfahren.“ Um zu demonstrieren, wie er sich gefühlt hat, streckt er den rechten Arm aus und greift nach einem leeren Glas. „So hab ich gezittert.“ Theuer stammt nicht aus Finkenheerd. Er ist 1985 hergezogen und kennt die tatverdächtige Mutter nicht. Er kennt nur die Mutter und die ältere Schwester. „Die sind ruhig, fleißig, haben sehr zurückgezogen gelebt und kaum Kontakte zu den Nachbarn gehabt.“ Er weiß noch, dass der verstorbene Vater von Sabine H. Mitglied im Gemeindekirchenrat gewesen sei. Ja, gläubig sei die Familie gewesen. „Aber keine Fanatiker.“ Sabine H. soll in der Schule eine der Besten gewesen sein.
Theuer hatte bisher nur mit Jugendlichen zu tun, die Hauswände voll schmieren, junge Bäume ausreißen oder wie die Wilden durchs Dorf rasen. Überregionale Nachrichten gab es aus Finkenheerd seit der Wende bisher zwei Mal: 1997, als das Hochwasser kam, und 1999, als die Sprengung der letzten Schornsteine des Heizkraftwerkes bei „Wetten, dass …“ zu sehen war. „Und jetzt die Kindermorde“, stöhnt er und schüttelt den Kopf.
So wie ihm geht es vielen Leuten. Sie versuchen, Worte zu finden für etwas, was unverständlich scheint. Ein Schlosser legt sein Schweißgerät beiseite und klappt den Sichtschutz hoch. „Man ist irgendwie schockiert“, sagt der kräftige Mann mit dem Vollbart. „Man kann nicht reinschauen in die Menschen.“ Ein 69-jähriger Rentner in Jogginghose, Basecap und ausgetretenen Latschen betrachtet das abgesperrte Haus aus der Distanz. „Man hört ja öfter mal davon, dass eine Mutter ihr Baby getötet hat“, sagt er. „Aber die Stückzahl neun in so einem Zeitraum, nee, das ist mir zu hoch.“ Am Montag habe er an „einen illegalen Babyfriedhof“ gedacht, weil er keine Erklärung hat.
Georg Langosch ist einer der wenigen, der nicht erst versucht, eine Antwort zu finden, dass eine Frau Kinder zur Welt bringt, tötet und vergräbt. „Kann man das menschlich erklären?“, fragt der freundliche Mann mit dem dicken Bauch und dem kräftigen Vollbart. „Es gibt Phänomene, die wir nicht erklären können, sowohl im Guten als auch im Bösen.“ Georg Langosch ist Pfarrer. Er steht vor der Kirche, die zehn Minuten entfernt ist von dem Haus, in dem die Polizei auch noch gestern mit Leichenspürhunden nach möglichen weiteren Babyleichen suchte.
Er selbst hat im vergangenen Jahr etwas erlebt, wofür er auch keine Erklärung hat. „Im April 2004 habe ich in den Katakomben von Rom für eine Kirche gebetet“, erzählt der gebürtige Pole. Im vergangenen Jahr ging sein Wunsch in Erfüllung. Er konnte die katholische Kirche in Finkenheerd für 99 Jahre pachten. Stolz erzählt Langosch, dass es in den letzten fünf Wochen neun Taufen in seiner Kirche gab. So viele Kinder, wie am Sonntag und Montag in Finkenheerd gefunden wurden. „Auch bei sehr gläubigen Menschen schleicht sich das Böse heran“, sagt der Pfarrer nachdenklich. Seine evangelische Kollegin Christiane Mantschew hat gestern angekündigt, für den Abend die Türen ihrer Martin-Luther-Kirche für Andachten offen zu halten. Mit „Gebet und Stille“ solle den Menschen eine Möglichkeit gegeben werden, ihre Ratlosigkeit zu artikulieren und den Angehörigen beizustehen, „über die das hereingebrochen ist“. (mit Reuters, AP, EPD)