Zu viel abgesägt

BERLIN – ISTANBUL Arbeiten der Berliner Künstlerin Sophia Pompéry sind derzeit in Istanbul zu sehen. Die guten Bedingungen im Kunstraum Arter zeigen, wie wenig berückend die Bedingungen für Künstler meist sind

Dass ich mich mit einem kuratorischen Konzept auseinandersetze, bilde ich mir als Betrachter nur ein

VON BRIGITTE WERNEBURG

Zwei weiße Zollstöcke sind in einer Vitrine übereinander angeordnet. Beide messen sie ausgezogen je zwei Meter – und trotzdem sind sie zum Erstaunen der Betrachter keineswegs gleich lang. Die zwei Meter des unteren Zollstocks sind einen ganzen Zentimeter länger als die zwei Meter des oberen. Diesem Umstand verdanken es die Industrieprodukte auch, dass sie sich in einer Vitrine wiederfinden. Seitdem Sophia Pompéry während einer Aufbauarbeit klar wurde, dass sie immer zu viel abschnitt, weil das Maß ihrer Säge und das ihres Zollstocks nicht übereinstimmten, vergleicht und sammelt die Künstlerin Maßbänder.

Dazu, Maßstäbe zu vergleichen und zu sammeln, lädt Sophia Pompérys Arbeit auch in anderer Hinsicht ein. Die 1984 geborene Berlinerin ist die Preisträgerin des „Toni und Albrecht Kumm Preises zur Förderung der Bildenden Künste“. Der mit 10.000 Euro dotierte Preis ist eine wichtige Unterstützung am Beginn einer Künstlerkarriere. Das brachte Sophia Pompéry vor Kurzem in ihrer Dankesrede in der Kommunalen Galerie Berlin zum Ausdruck, wo sie zusammen mit den anderen Atelierstipendiaten des Freundeskreises der UdK die Ausstellung „Vice Versa. Miami 2011 – Berlin 2012“ bestritt. Hinsichtlich ihrer letzten künstlerischen Aktivitäten schwärmte sie von ihrer Erfahrung mit Arter, die ihr die Augen dafür öffnete, unter welch großartigen Bedingungen es möglich sein kann, auszustellen. Der Kunstraum Arter in Istanbul zeigt noch bis Ende August ihre Einzelausstellung „The Silent Shape of Things“.

Was aber wird in Istanbul gemacht, was anderswo so nicht gemacht wird? Über die Bedingungen, unter denen Künstler ausstellen, wird wenig öffentlich. Weil sie oft nicht so berückend sind. Und dann interessiert ja vor allem das Werk. Doch wird man ihm gerecht, wenn man über die genaueren Umstände hinwegsieht? Dass ich mich mit einem kuratorischen Konzept auseinandersetze, das bilde ich mir als Betrachter doch nur ein, wenn es tatsächlich so ist, dass ihre Teilnahme an einer Biennale oder Galerieausstellung für Künstler davon abhängt, ob sie selbst in der Lage sind, dafür einen Sponsor beizubringen. Eigentlich muss ich immer im Hinterkopf behalten, dass hier zu viel abgesägt und dort zu viel ersetzt wurde, weil der Zollstock der kuratorischen, also ästhetischen und intellektuellen Überlegungen nicht mit dem der Finanzen übereinstimmt, der gern zu kurz misst.

Anders beim Kunstraum Arter, mit dem die private Vehbi-Koç-Stiftung die zeitgenössische Kunst fördert. Arter ist kein Museum, sondern will eine Plattform für experimentelle Arbeiten und junge Künstler sein. Sophia Pompéry verdankt ihren Auftritt dem glücklichen Umstand, dass Arter anlässlich der Ausstellung der belgischen Künstlerin Berlinde Bruyckere vom eingeübten Prinzip abwich, immer zwei Einzelausstellungen parallel zu zeigen. Als die Kuratoren dann erfuhren, dass Pompéry, von der Arter bei ihrer Meisterschülerausstellung in Berlin schon zwei Arbeiten erworben hatte, in der Stadt war, schlugen sie ihr vor, doch die Parallelausstellung zu realisieren. Und das bedeutete dann, „sechs Wochen Vorlauf und kein Budget“, wie Sophia Pompéry die Ansage zitiert.

Konkret hieß dann kein Budget, dass die Künstlerin ein Ausstellungshonorar erhielt, unabhängig davon, dass weitere Arbeiten von ihr angekauft wurden. Selbstverständlich wurde auch ein Katalog zur Ausstellung produziert, die von Ece Pazarbasi verantwortet wurde, einer Kuratorin, für die sich Pompéry unter drei Vorschlägen entschieden hatte. Eine Architektin kam ins Spiel, und ihre Frage, „wo möchtest du deine Wände haben?“, fand die Berliner Newcomerin dann „sehr lustig, wenn man gewohnt ist, zu diskutieren, ob man womöglich ein Loch in die Wand bohren darf, um dahinter die Kabel zu verlegen“. Ob es um die Farbe der Wände oder die Folien auf den Fenstern ging, die das Tageslicht filtern sollten, immer wurden ihr Vorschläge unterbreitet, und die Wände und Fenster mit bis zu acht Varianten bemustert! Während anderswo Galerien selbst den benötigten Bildschirm und DVD-Player nicht auftreiben, wurde hier auch die Badewanne gekauft, die die Künstlerin brauchte.

Kein Budget und sechs Wochen Vorlauf schlugen sich nur dahingehend nieder, dass Sophia Pompéry keine Arbeit explizit für den Kunstraum machen konnte. Dafür gab es kein Budget, vor allem aber keine Zeit. Und Zeit ist ein wesentliches Produktionsmittel der Künstlerin, die über ihre Arbeiten sagt: „Es geht mir eher darum, eine Beobachtung zu zeigen, als ein Werk zu schaffen. Ich will nicht irgendwo ein Ding hinstellen.“ Sie findet dieses Ding eher im Alltag und sie findet die Situation dazu, in der es nicht mehr alltäglich ist: etwa übereinander angeordnet – und schon ist – mir nichts, dir nichts – unsere vermeintlich rational durchmessene Welt beim Teufel.

■ Bis 26. August, Arter, Istanbul