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Archiv-Artikel

„Da hinken wir hinterher“

Ewald Lienen über fehlende Erfolge, die Möglichkeiten moderner Trainingssteuerung und seine Freude, wieder Talente in der Bundesliga spielen zu sehen. Ein taz-Gespräch zum Saisonauftakt

INTERVIEW FRANK KETTERER

Herr Lienen, noch 34 Bundesligaspieltage bis zur WM. Was erwartet uns in dieser Saison?

Ewald Lienen: Ich weiß nicht, ob wir schon von der WM reden sollten. Jetzt beginnt erst einmal die Bundesliga.

Sie sehen da keinen Zusammenhang?

Natürlich steht die letzte Saison im Land des Gastgebers ganz besonders im Blickpunkt. Zum einen, weil viele Nationalspieler in der Bundesliga tätig sind, zum anderen, weil der Fußball durch die WM generell ein größeres Interesse erfährt.

Entsprechend wurden schon im Vorfeld Rekorde vermeldet: Rund 400.000 Dauerkarten wurden verkauft, das Trikotsponsoring hat erstmals die 100-Millionen-Grenze überschritten, „Premiere“ hat zuletzt wöchentlich rund 4.000 Neukunden hinzugewonnen. Hat die Bundesliga einen solchen Hype verdient?

Das werden wir sehen. Es liegt jetzt an uns, also an den Spielern, Trainern und Verantwortlichen, dieses Interesse zu rechtfertigen.

Selbst bei den Transfers haben die Vereine erstmals seit vier Jahren wieder tiefer in die Tasche gegriffen und über 75 Millionen Euro für Neuverpflichtungen ausgegeben. Bedeutet das das Ende der Kirch-Krise – oder ist es nur ein vorübergehender WM-Boom?

Es ist eine normale Entwicklung. Mit dem Beginn der Kirch-Krise standen den Vereinen quasi von einem Tag auf den anderen weniger Einnahmen zu Verfügung, während die Kosten ungefähr gleich geblieben sind, schon weil die Verträge mit den Spielern aus der Vor-Krisenzeit ja weiterhin Bestand hatten. Von daher war die Notwendigkeit, sparen zu müssen, zunächst noch größer. Nun, da man die Verträge einem anderen, niederen Niveau angepasst hat, steht den Vereinen auch wieder etwas mehr Geld für Spielereinkäufe zu Verfügung. Die Lage hat sich normalisiert.

Dann befürchten Sie nicht, dass nun die große Kaufwut ausbricht?

Nein. Wir haben ein sehr gutes Lizenzierungssystem, das die Vereine dazu zwingt, einigermaßen vernünftig zu haushalten.

Auffallend ist, dass von den 135 Neuverpflichtungen nur 57 Ausländer sind. Ist das ein Trend oder nur Zufall?

Ich hoffe sehr, dass das ein Trend ist – und dass es vor allem auch einer bleibt.

Wie sehr ist dieser in Gefahr, wenn wieder mehr Geld ins Spiel kommt?

Es ist doch schon in der Vergangenheit nicht so gewesen, dass man deutsche Talente nicht verpflichten wollte. Das Problem war nur: Es gab sie gar nicht. In den letzten Jahren aber sind immer mehr Vereine dazu übergegangen, Talente zu fördern und auszubilden. Und jetzt haben wir wieder eine Vielzahl, von denen neuerdings auch immer mehr in der Bundesliga oder der zweiten Liga zum Einsatz kommen.

Auch klangvolle Namen wie Jon Dahl Tomasson, Jesper Grönkjaer, Rafael van der Vaart oder Giovanni Trapattoni zieht es plötzlich wieder in die Bundesliga. Warum?

Da spielt die WM bestimmt eine Rolle. Ich hoffe aber auch, dass die Qualität unsere Vereine und unseres Fußballs etwas damit zu tun hat. Sicherlich haben wir zuletzt auf europäischer Ebene keine Bäume ausgerissen. Aber wir haben in Deutschland doch sieben, acht Topklubs mit richtig klangvollen Namen, während es in manch anderen Ländern nur zwei oder drei sind.

Dennoch hat DFB-Präsident Theo Zwanziger bezüglich der Liga festgestellt: „Da gibt es international Nachholbedarf.“

Natürlich hat es international zuletzt an Erfolgen gefehlt, und natürlich müssen wir daran arbeiten. Aber wie gesagt: Bei uns ist es, im Vergleich zu manch anderem Land, nicht so, dass sich die besten Spieler auf ein oder zwei Vereine konzentrieren. In Portugal zum Beispiel gibt es den FC Porto und Benfica Lissabon, in Holland Ajax Amsterdam und PSV Eindhoven – danach ist schon Feierabend. Bei uns hingegen gibt es die Bayern, Schalke, Werder, Stuttgart, Hamburg, Hertha und, und, und … Wenn man alle Topspieler dieser Klubs ebenfalls in zwei, drei Vereinen bündeln würde, würden wir im Europapokal auch andere Erfolge erringen. Aber bei uns ist einfach die Konkurrenz größer. Oder, wie es Berti mal gesagt hat: Die Spitze ist breiter.

Und das heißt?

Das heißt, die Einzelqualität der Mannschaften hebt sich nicht so sehr voneinander ab. Das wiederum macht den Existenzkampf in der Bundesliga wesentlich härter als beispielsweise in Portugal oder Holland. Ein Verein, der in der Bundesliga und im internationalen Wettbewerb beschäftigt ist, hat eine ganz andere Belastung zu verkraften als so mancher Klub aus anderen Ligen. Die haben pro Saison vielleicht drei oder vier Top-Spiele und können sich ansonsten top auf den Europapokal vorbereiten.

Was ist mit den Vereinen in Spanien, England und Italien?

Die haben das gleiche Problem wie wir. Aber dort ist, wie zum Beispiel in England, die Vermarktung eine ganz andere, gerade was die Fernsehgelder angeht. Oder es wird, vor allem in Italien und Spanien, oftmals unseriös gewirtschaftet und konnten sich deshalb viele teure Superstars leisten. Nach unseren Maßstäben würden dort gut 50 Prozent der Vereine erst gar keine Lizenz erhalten. Real Madrid zum Beispiel war doch schon mausetot, die dürften eigentlich gar nicht mehr mitspielen.

In der Fünf-Jahres-Wertung der Uefa liegt Deutschland erstmals hinter Spanien, Italien, England, Frankreich und Portugal auf Rang sechs. Ist das gerechtfertigt?

Im Gegensatz zur Fifa-Weltrangliste gilt diese Rangliste als relativ korrekt, weil sie sich an den sportlichen Erfolgen orientiert.

1992 war Deutschland noch Erster. Was wurde verschlafen?

Da haben verschiedene Faktoren eine Rolle gespielt. Zum Beispiel ist in diese Zeit die Phase der Fernseh-Einzelvermarktung der Vereine gefallen. Das ging ungefähr los, als ich 1995 nach Spanien ging. Schon da verfügte ein eher durchschnittlicher Klub wie CD Teneriffa über das Doppelte oder gar Dreifache an Fernseheinnahmen wie die Spitzenklubs in Deutschland. Ein anderer Faktor war, dass uns just zu dieser Zeit ein bisschen die Toptalente ausgegangen sind.

Warum war dem so?

Vielleicht haben wir zu sehr ins Ausland geschielt. Ein anderer Punkt könnte aber auch sein, dass die Weltmeister von 1990, also die Völlers, Littbarskis, Brehmes und Matthäus’, die letzte Generation von Straßenfußballern waren. Für die war Fußball der Lebensmittelpunkt. Heutzutage hingegen muss man für die Jugend erst mal Möglichkeiten organisieren, damit die überhaupt gemeinsam Fußball spielen können. Ich glaube, dass uns in diesen Jahren die anderen Länder weggelaufen sind, in dem sie schon weit, weit vor uns professionelle Ausbildungsstrukturen installiert haben, die selbst unseren heutigen Standards um Lichtjahre voraus sind. Wir hingegen waren ja gerade mal wieder Weltmeister geworden – und schon deshalb zufrieden. Meiner Meinung nach ist das überhaupt die Krux im deutschen Fußball: dass der Erfolg an erster Stelle steht und die Qualität nur an zweiter. Und solange der Erfolg noch da war, gab es keinen Grund, irgendetwas zu ändern, auch nicht die Ausbildung.

Ein Kritikpunkt an der Liga lautet, es werde nicht schnell genug gespielt.

Ach, wir bemühen uns doch auch, den Ball und das Spiel schnell zu machen. Fakt ist aber, dass ein schneller Fußball nur mit technisch überragenden Spielern möglich ist. Diese Leute sind uns zuletzt abgegangen. Da könnten wir in der Tat mehr von gebrauchen.

DFB-Präsident Zwanziger hofft, „dass sich die Faszination Nationalelf auf die Bundesliga überträgt“. Taugen Jürgen Klinsmann und die Nationalmannschaft tatsächlich als Vorbild für die Bundesliga?

Ich würde es viel lieber so sagen: Die Faszination Bundesliga hat sich auf die Nationalmannschaft übertragen. In der Bundesliga war doch schon in der Vergangenheit mächtig was los – und das ist nun auf die Nationalmannschaft übergegangen. Jürgen Klinsmann hat bestimmt eine Reihe von Dingen verändert und frischen Wind reingebracht, aber die Spieler, die bei ihm spielen, kommen meines Wissens alle aus der Bundesliga.

Klinsmann hat schon bald nach seinem Amtsantritt gefordert: „Wir müssen professioneller werden.“ Speziell bei Ihnen dürfte er damit offenste Türen einrennen. Sie haben schon immer einen professionellen Lebenswandel von Ihren Spielern eingefordert.

Es geht ja gar nicht nur um die Spieler an sich, sondern um die gesamte Arbeitsweise in den Vereinen, also um die individuelle Ebene. Und um die Arbeitsstrukturen, um Spieler zu Top-Profis zu machen. Ich will da wirklich nicht päpstlicher sein als der Papst, aber wir arbeiten mittlerweile auf einem so hohen Niveau, dass der Köper gewisse Lebensweisen nicht verzeiht, egal ob das die so genannten Genussgifte sind oder eine falsche Ernährung.

Was hat das mit den Vereinen zu tun?

Die müssen das Umfeld schaffen, quasi die Infrastruktur. Schalke 04 zum Beispiel hat einen Ernährungsexperten eingestellt. Das ist hochmodern, aber ich möchte wissen, in welchen Bundesligaklubs das sonst noch der Fall ist. Ein anderer Bereich ist die Trainingssteuerung. Auch die kann man auf ein ganz anderes Niveau heben – indem man zum Beispiel mit Experten zusammenarbeitet. Beim AC Mailand ist jeder Spieler bis aufs kleinste Detail ausgeleuchtet, da wird in jeder Beziehung an der individuellen Fitness des Spielers gearbeitet. Davon sind wir hier Lichtjahre entfernt.

Hat die Bundesliga die aktuellen Entwicklungen der Trainingslehre verschlafen?

Es geht weniger um Trainingslehre als um Trainingssteuerung. Also um die Frage: Wie begleite ich den Trainingsprozess wissenschaftlich? Da hinken wir in der Tat hinterher.

Herr Lienen, wie sehr beeinflusst die Tatsache, dass nächstes Jahr WM ist, Ihre Arbeit?

Natürlich muss man Rücksicht auf die Nationalspieler nehmen, das ist immer so. Je mehr Nationalspieler man in der Mannschaft hat, umso mehr sind in den Abstellungsperioden mit ihren Nationalmannschaften unterwegs und kommen entweder müde oder verletzt zurück. Auf der anderen Seite ist es sicherlich so, dass die WM ihre Schatten voraus wirft und die Spieler sich in guter Form präsentieren wollen, um sich für ihre Nationalmannschaften empfehlen zu können. Das kann auch positiv sein.

Beim Konföderationen-Pokal spielten sich vor allem junge Spieler wie Per Mertesacker, Bastian Schweinsteiger oder Lukas Podolski in die Herzen der Fans. Sind diese Spieler schon gefestigt genug, um zur WM-Hoffnung des Gastgeberlandes zu werden?

Das kann ich Ihnen nicht sagen – und es ist für mich auch zweitrangig. Ich sehe die Entwicklung dieser jungen Spieler mit großem Wohlwollen. Und es bereitet mir eine große Freude, dass Spieler wie Mertesacker, Hitzelsberger, Podolski, Huth und wie sie alle heißen immer mehr nach vorne stoßen und wir wieder eine immer größere Anzahl junger Spieler haben, die auf internationalem Niveau spielen können. Aber meine Hoffnung geht in erster Linie dahin, dass wir dieses Niveau noch verbessern. Und dass wir nicht nur mal kurz einen Schweinsteiger oder Podolski haben, wegen denen nun die halbe Nation schreit: Jetzt müssen wir Weltmeister werden. Das ist Quatsch. Talente wie Podolski oder Schweinsteiger gibt es in anderen Ländern zwanzig.

Dann wird es nichts mit dem WM-Titel für Deutschland?

Natürlich kann man Weltmeister werden. Aber ich kann mich an keine einzige WM erinnern, die wir gewonnen haben, weil wir an der Spitze der technisch-taktischen Entwicklung standen. Was wir aber sowohl 1974 als auch 1990 hatten, waren Top-Spieler – und deshalb sollten wir darauf auch wieder unser Augenmerk legen: Top-Talente auszubilden, aus denen irgendwann auch mal wieder Top-Spieler werden. Schweinsteiger und Podolski sind zwei absolute Weltklasse-Talente. Aber nur wegen den beiden vom Titel zu faseln, das halte ich für völlig überzogen.

Also gut, dann eine andere und letzte Frage: Wer wird deutscher Meister?

Das ist einfach: Der, der am Ende die meisten Punkte hat.