: Vorprogrammierte Quälerei
Haus- und Nutztiere werden im Hinblick auf Leistung und Schönheit gezüchtet – und erleiden dadurch oft gesundheitliche Schäden. Den Züchtern ist häufig egal, ob die Tiere ein Leben lang leiden müssen. Dabei sind die falschen Ideale vermeidbar
VON GISELA SONNENBURG
Der Mensch macht sich die Welt untertan, oft ohne Rücksicht auf das, was die Natur sinnvoll einrichtete. Besonders betroffen sind jene Tiere, die der Mensch stetig für sich nutzt: als Lebensmittellieferanten, Versuchsobjekte oder Spielgefährten. Ihre Züchtung im Hinblick auf artfremde Kriterien verursacht den Tieren jedoch gesundheitliche und andere Schäden; oftmals gleichen die Züchtungen sogar vorprogrammierter Tierquälerei. Experten sprechen daher von „Qualzucht“.
Weit verbreitet, oft aber verdeckt, findet diese in der Landwirtschaft statt. Ein drastisches Beispiel ist der so genannte B.U.T. Big-6-Truthahn, der mit 21 Kilogramm das Dreifache seines natürlichen Gewichts erreicht. Der Puter entwickelt so viel begehrtes Brustfleisch, dass er kaum noch laufen kann, an eine natürliche Fortpflanzung ist nicht mehr zu denken. In Deutschland fällt eine solche Überzüchtung zwar unters Tierschutzgesetz, aber die Industrie weiß das zu umgehen: Gezüchtet werden die Puter im Ausland, in Deutschland werden die Tiere nur aufgezogen und geschlachtet.
So gibt es auch Masthühner, deren Sättigungszentrum im Gehirn gestört ist, damit sie schnell zunehmen. Über 70 Prozent dieser Tiere haben Skelettschäden, Brustbeinentzündungen oder sterben den Herztod aufgrund ihrer Verfettung. Herzattacken sind oft auch das Ende spezieller Hybridschweine: Sie weisen ein defektes Gen auf und werden dadurch extrem stressanfällig. Dafür erfüllen sie das Zuchtziel: mit schweineuntypisch magerem Fleisch.
Die Liste gängiger Zuchtsünden ist ein Katalog der Perversionen: So kann man hochgezüchtete Rinder nicht mal mehr draußen an der frischen Luft halten – sie sind zu infektanfällig. Und Hochleistungskühe, die einen hohen Milchertrag garantieren, neigen zu schmerzhaften Euterentzündungen. Überhaupt die Kühe: Sie können eigentlich über zehn Jahre alt werden. Aber viele werden bereits mit vier oder fünf geschlachtet, weil sie aufgrund ihrer Züchtung unfruchtbar werden oder Erkrankungen des Verdauungstrakts auftreten.
Dass all dies möglich ist, liegt an der Definition der Zuchtziele im Gesetz, weiß Alexander Herzog. Der emeritierte Gießener Professor und amtierende Präsident der Landestierärztekammer Hessen: „Im Tierzuchtgesetz für Landwirtschaftstiere wird als Zuchtziel die Leistungsfähigkeit der Tiere unter Berücksichtigung der Vitalität genannt.“ Vitalität ist in diesem Kontext aber ein ungenauer Begriff; auch ein stark zuchtgeschädigtes Tier mag äußerlich vital wirken. Professor Herzog fordert deshalb auch eine neue Formulierung. Etwa: „Neben der Leistungsfähigkeit ist die Gesundheit der Tiere ein Zuchtziel.“
Herzog arbeitete bereits 1999 an einem Gutachten mit, das das Bundesministerium für Landwirtschaft in Auftrag gab, um die Umsetzung des Qualzucht-Paragrafen 11 b des Tierschutzgesetzes zu erleichtern. Im Gutachten heißt es klipp und klar, dass die „durch Zucht gezielt geförderte oder geduldete Ausprägung“ von Merkmalen, die das Tier beeinträchtigen, verboten ist.
Dennoch hapert es an der Vollziehung des Bundesgesetzes in den Ländern, auch eine EU-Verordnung zum Schutz der Tiere ändert das nicht. In Hessen zum Beispiel, das zunächst eine Vorreiterrolle in der Ahndung von Qualzucht einnahm, wurden die Veterinärämter kurzerhand den Landräten unterstellt statt einem Ministerium. Prompt kamen die Kontrollen ins Stocken.
Andernorts sind die Ämter entweder überfordert oder desinteressiert. Brigitte Rusche, Leiterin der Akademie für Tierschutz des Deutschen Tierschutzbunds, hofft daher auf „Einsicht bei den Zuchtvereinen“.
Die ist auch im Bereich der Klein- und Heimtiere gefragt: So gibt es Nacktmäuse, Nacktkatzen, Nackthunde wie den Chinese Crested Dog. Er hat außer einem Büschel am Kopf kein Fell: Die Tiere verletzen sich, frieren, bekommen Allergien und Sonnenbrand. Als „Nebenwirkung“ fehlen ihnen zudem oft Zähne. Und viele der Nachkommen sind kaum überlebensfähig.
Auch Boxer, Möpse und Perserkatzen sind oft fehlgezüchtet, müssen operiert werden, weil ihre zu kurzen Nasen sie nicht richtig atmen lassen. Die schwanzlosen Manx-Katzen haben oft Rückgratverkrümmungen, ihre Nachkommen schwere Missbildungen. Rückgratschäden haben auch Dackel, deren Rumpf auf extralang gezüchtet ist. Die tränenden Augen und verschmalzten Ohren beim Cockerspaniel sind ebenfalls kein Zufall, sondern Zuchtnebenwirkungen; die häufige Hüftgelenkdysplasie (HD) beim Schäferhund ist gar die logische Folge einer Zucht, die den Hinterleib in einer abfallenden Linie sehen möchte.
Dabei sind solche falschen Schönheitsideale absolut vermeidbar. Rusche plädiert an potenzielle Halter, sich vor dem Kauf eines Tieres genau zu erkundigen, ob es nicht qualzuchtgeschädigt ist. Immerhin gab es schon einen Musterprozess gegen eine Züchterin, deren Katzen zwar blauäugig, aber taub waren. Auch im Nutztierbereich kann die Macht der Käufer einiges bewirken: wenn diese, statt Billigprodukte, Erzeugnisse ohne Qualzuchthintergrund wählen.