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Archiv-Artikel

Gerechtigkeit ist, was Mühe macht

Die soziale Gerechtigkeit, eine der ältesten Menschheitsfragen überhaupt, ist wieder das zentrale Thema der politischen Debatte. Alles dreht sich um die Frage nach der Gleichverteilung von Lebenschancen, um Wahlfreiheit für so viele wie möglich

Darauf, dass alle die gleichen Chancen haben sollen, kann man sich im Prinzip leicht einigen. Aber was heißt das konkret?

VON ROBERT MISIK

In den vergangenen Jahrzehnten haben wir uns an zwei Argumentationslinien gewöhnen dürfen, die praktischerweise auf das Gleiche hinausliefen. Die erste lautete: Ungerechtigkeit muss leider sein. Nur in Gesellschaften, in denen die Reichen so richtig reich werden dürfen, würde eine ökonomische Dynamik in Gang gesetzt, von der letztlich alle profitieren. Schroffe Ungleichheiten müssten da leider in Kauf genommen werden. Die zweite Gedankenreihe ging etwa so: Schroffe Ungleichheiten sind gar nicht ungerecht, sondern gerecht. Freiheit verträgt sich nicht mit Gleichheit. Wer mehr aus sich und seinem Leben mache, der hat auch Anspruch auf Pool, Prunk und Privatjet.

Doch jetzt ist sie wieder da, „eine der ältesten Menscheitsfragen“ überhaupt (Die Zeit) – die nach der sozialen Gerechtigkeit. Weil ihnen die neue Linkspartei ordentlich einheizt, setzten die deutsche SPD, aber auch die Christdemokraten von der CDU soziale Duftmarken. „Gerecht ist, was Arbeit schafft“, trommelt die Union und SPD-Kanzler Gerhard Schröder verkündete sein Wahlprogramm vor einem überdimensionalen Poster mit der Aufschrift: „ZukunftsGerecht“. Neuerdings will er gar eine „Reichensteuer“ einführen, damit die soziale Schieflage etwas abnimmt – in den letzten sieben Regierungsjahren hat er sich genau dagegen gestemmt.

Es hat sich ein Konsens durchgesetzt, der freilich vorerst nur negativ formuliert werden kann: Es geht nicht mehr gerecht zu. Gerechtigkeitsnormen werden grob verletzt: Berühmt ist das Exempel des Bankvorstandes, der am selben Tag Rekordgewinne für das Unternehmen (sowie Spitzenprämien für sich selbst) und gleichzeitig Massenentlassungen verkündet.

Vertrackter wird es freilich, versucht man zu ergründen, wie es denn zugehen müsste, damit es nicht mehr ungerecht zuginge. Die Frage klingt simpel, lässt sich aber nicht so leicht beantworten: Was heißt heute soziale Gerechtigkeit? Will man sich darüber Gedanken machen, muss man sich mit den Gerechtigkeitsnormen auseinander setzen, die in den Köpfen der breiten Masse der Menschen spuken – und darüber, wie diese Normen in die Köpfe hineinkommen. Wohl sind die allermeisten Menschen nicht der Meinung, dass alle im Ergebnis gleich viel haben sollten, dennoch steht das Prinzip der Gleichheit zentral in allen Überlegungen zur Gerechtigkeit. So sind die Gerechtigkeitskulturen, wie die deutsche Philosophin Angela Krebs im Vorwort des lesenswerten Suhrkamp-Bändchens „Gleichheit oder Gerechtigkeit“ schreibt, „so kompliziert wie das Leben selbst“. Darauf, dass alle die gleichen Chancen haben sollen, kann man sich im Prinzip leicht einigen. Doch wie viele Menschen würden konsequenterweise dafür plädieren, etwa das Erbrecht abzuschaffen oder alle Kinder obligatorisch in die gleichen Ganztagsschulen zu stecken – was ja erst gleiche Ausgangsbedingungen herstellen würde?

Dennoch ist das Prinzip der Gleichverteilung, nicht nur von Lebenschancen, sondern sogar von Gütern, tiefer in den Mentalitäten verwurzelt, als es bei oberflächlicher Betrachtung erscheinen mag. Der russisch-britische Philosoph Isaiah Berlin hat das einst mit einer eindringlichen Metapher zu zeigen versucht: „Die Behauptung ist, dass Gleichheit keiner Rechtfertigung bedarf. Wenn ich einen Kuchen besitze und es zehn Personen gibt, unter denen ich aufteilen will, dann entsteht nicht automatisch ein Rechtfertigungsbedarf, wenn ich jeder Person ein Zehntel des Kuchens zukommen lasse. Wenn ich jedoch von diesem Grundsatz der Gleichverteilung abrücke, wird von mir erwartet, besondere Gründe dafür anzugeben.“

In den vergangenen Jahrzehnten wurden, um im Bild zu bleiben, viele Gedanken darauf verwandt, diese guten Gründe auszuformulieren. Menschen sind unterschiedlich, nicht nur, was ihre Anlagen betrifft, sondern auch in Hinblick darauf, was sie erstreben, was sie als ein gutes Leben betrachten. Menschen sind autonome Personen – und die Autonomie widerstrebt der Herstellung von Gleichheit. Zudem: Was haben die Einzelnen von der Gleichverteilung des Kuchens, wenn der – womöglich sogar wegen der Gleichverteilung – schrumpft? Ungleichheit, so der amerikanische Gerechtigkeitstheoretiker John Rawls, ist so lange vertretbar, solange sie den Schlechtergestellten nützt – also wenn, etwa von der wirtschaftlichen Dynamik, die sie auslöst, auch die Geringverdiener profitieren.

Der amerikanische Philosoph Harry Frankfurt hat auch ein gemäßigtes Gleichheitsprinzip verabschiedet: „Es kommt darauf an, ob Menschen ein gutes Leben führen, und nicht, wie deren Leben relativ zu dem Leben anderer steht.“ Das klingt vernünftig, widerspricht aber allen Erfahrungen: Bittere Armut und elementarer Mangel sind als solche peinigend, die Frustrationen wachsen aber erst so richtig, wenn Not sich inmitten von Reichtum breit macht. Schon das Kleinkind wird den Umstand, dass es den ersehnten Tennisschläger nicht bekommt, insbesondere dann als Ungerechtigkeit empfinden, wenn sein Bruder oder seine Schwester ihn sehr wohl erhält.

Was als ungerecht gilt und was als vernünftiger wirtschaftlicher Anreiz zur Steigerung des Sozialprodukts, ist umkämpft und steht nicht von vornherein fest. Welcher Grad an Ungleichheit akzeptiert wird und welcher nicht, variiert. Dass ein Manager, beispielsweise, siebzehnmal mehr verdient als ein Angestellter, mag als gerecht erscheinen, dass er dreihundertmal mehr verdient, schon nicht mehr. Wo ist aber da die Grenze? Und wenn derselbe Angestellte fünfzehn Monatsverdienste bei voller sozialer Absicherung erhält, so ist das einerseits Indiz für eine sozial vergleichsweise gerechte Ordnung, andererseits aber aus der Perspektive des freien Dienstnehmers, der dieselbe Arbeit zu deutlich schlechteren Bedingungen macht, krass ungerecht. Ist es dann eher gerecht, die „Errungenschaften“ des Angestellten zu verteidigen oder versucht der – nach den Worten des Tübinger Philosophen Ottfried Höffe – mit Gerechtigkeitsrhetorik nur seine „Eigeninteressen moralisch zu überhöhen“. Dass die Post nach Markt- und Konkurrenzprinzip reorganisiert wird, erscheint Vielen als vernünftig – sollten Babys am freien Markt verkauft und gekauft werden können, würden das schon deutlich weniger Leute goutieren (obwohl doch hohe Preise in diesem Fall als Ausweis gelten könnten, wie hoch wir den Wert menschlichen Lebens schätzen).

Was die soziale Ungleichheit neuerdings wieder in den Verruf gebracht hat, ist natürlich der Umstand, dass die Versprechen ihrer Apologeten nicht aufgegangen sind. Niedrigere Löhne für die Schwachen, sinkende Steuern für die Unternehmen haben eben nicht zu mehr Prosperität geführt, sondern soziale Kosten erzeugt. Ziel eines modernisierten Sozialstaates, formuliert der französische Sozialwissenschafter Robert Castel in seinem klugen Büchlein „Die Stärkung des Sozialen“ (jüngst in der Edition des Hamburger Institut für Sozialforschung erschienen), sei demnach also nicht eine Gesellschaft der Gleichen, sondern eine „Gesellschaft der Ähnlichen“.

Die Ungleichheit untergräbt die Versprechen, die sie im Mund führt, und umgekehrt ist ein Mindestmaß von sozialer Sicherheit die Voraussetzung für die Mobilität, die dynamische Gemeinwesen benötigen. Castel: „Tag für Tag in Unsicherheit zu leben bedeutet, nicht mehr dazu in der Lage zu sein, Beziehungen zu seinen Mitmenschen aufzubauen, seine Umwelt als Bedrohung zu erleben.“ Und er fragt: „Kann ein Arbeiter, von dem man Flexibilität erwartet, vielseitige Einsatzbereitschaft, Verantwortungsbewusstsein, Eigeninitiative und die Fähigkeit, sich ständig an Veränderungen anzupassen, all dies ohne ein Mindestmaß an Absicherung überhaupt leisten?“ Dass sich ein starker Sozialstaat mit umverteilender Wirkung und das Prinzip der Freiheit entgegenstehen, lässt sich ohnehin nicht halten. Einerseits weisen gerade die ausgeprägtesten Sozialstaaten – wie etwa in Skandinavien – die stärkste Aufwärtsmobilität überhaupt auf, andererseits haben faktische Ungleichheiten freiheitseinschränkende Nebenwirkungen, wie der Berliner Philosoph Bernd Ladwig in seiner Studie „Gerechtigkeit und Verantwortung“ argumentiert: Wer in Mangel lebt, hat eben nicht die Freiheit, aus seinem Leben etwas zu machen.

So lautet auch der prekäre Konsens, auf den sich die moderne Gerechtigkeitstheorie einigen kann: Soziale Gerechtigkeit ist nicht der Antipode der Freiheit, sondern deren Zwillingsschwester: Schlussendlich ist es ihr um Gleichverteilung von Lebenschancen zu tun, um wirkliche Wahlfreiheit für so viele wie möglich. Wie man dazu kommt, darüber kreist neuerdings wieder die politische Debatte. Die Antworten sind umstritten – aber wenigstens das Thema ist wieder da.