IN DER DEBATTE ÜBER DEN OSTEN FEHLT DER MUT ZUR EHRLICHKEIT
: Wahlkampf nach Schönbohm

Die Logik des Wahlkampfs nimmt unerbittlich ihren Lauf. Die Nachrichtenagenturen hielten es gestern schon für nötig zu vermelden, dass Brandenburgs Innenminister Jörg Schönbohm (CDU) nicht zurücktrete. Das erschien angesichts seiner ungeheuerlichen Tat offenbar schon kurios: Schönbohm hatte sich seine eigenen Gedanken gemacht, und er hatte diese Gedanken trotz der bevorstehenden Bundestagswahl laut geäußert.

Gewiss lässt sich über Schönbohms These streiten, wonach die Tötung von neun Säuglingen in Frankfurt (Oder) mit einer „erzwungenen Proletarisierung“ zu DDR-Zeiten zusammenhängt. Aber die Frage, inwieweit die Ursachen für Gewaltbereitschaft auch in der DDR-Vergangenheit zu suchen sind, wird auch in Expertenkreisen zumindest diskutiert. Der Innenminister hat mit seiner Einlassung allemal mehr Nachdenklichkeit offenbart als jene Politiker, die jetzt über ihn herfallen. Einmal mehr ist er seinem Ruf gerecht geworden, ohne Rücksicht auf die Jahreszeit quer durchs politische Gemüsebeet zu trampeln.

Schönbohm war aufrichtig, aber wahltaktisch höchst ungeschickt. Er hat den vier anderen Bundestagsparteien jene Vorlage für einen spezifischen Ost-Wahlkampf geliefert, nach der sie bisher vergeblich suchten. Von der „Ehrlichkeit“, die Unionspolitiker beim Thema Mehrwertsteuer vor sich hertragen, ist im Umgang mit dem Osten nichts mehr zu spüren. Vor einigen Jahren noch gab es eine lange Liste gesellschaftlicher Gruppen, die im Wahlkampf niemand attackieren durfte – von den Rentnern bis zu den Beamten. Stück für Stück wurden diese Diskussionsverbote abgebaut. Übrig geblieben ist als letztes Tabu die Lage der Ostdeutschen.

Immer wieder werden Diskussionen angestoßen, von Wolfgang Thierse über rechte Gewalt bis Klaus von Dohnanyi über die Subventionspolitik nach dem Gießkannenprinzip. Immer wieder verstummen sie nach kurzer Zeit. Der fehlende Mut, über die Probleme des Ostens eine offene Debatte zu führen, hat etwas Diskriminierendes. Als wären die Bewohner der östlichen Bundesländer so minderbemittelt, dass man ihnen schmerzliche Wahrheiten vorenthalten müsste. RALPH BOLLMANN