: Nur noch Tofu und Quinoa
Gesundes Essen ist wichtig. Doch wer Hirse nur noch aus dem Hochland bestellt, könnte im Extremfall schon bei einer anderen Art von Krankheit angelangt sein. Die Orthorexie, der Zwang zum gesunden Essen, ähnelt in ihrer Struktur der Magersucht
VON KATHARINA RALL
„Eigentlich war ich bisher immer sehr stolz auf mich, dass ich mich extrem gesund ernährte. Doch jetzt kam ich ins Grübeln“, schreibt „A100“ in einem Forum für Ernährung. Sie las in einem Naturkost-Heft einen Artikel über das Krankheitsbild Orthorexie und fragt sich nun, ob ihre gesunde Ernährungsweise nicht vielleicht in Wirklichkeit krankhaft ist.
Der Zwang zur gesunden Ernährung steht hinter dem Begriff mit der griechischen Vorsilbe ortho (gerade, richtig), den der amerikanische Koch und Biolandwirt und selbst ernannte Alternativmediziner Steven Bratman in Anlehnung an die Suchterkrankung Anorexie, die Magersucht, kreierte. „Die Grenzen zu einer krankhaften Form der gesunden Ernährung sind fließend“, sagt Detlev Nutzinger, ärztlicher Direktor der Medizinisch-Psychosomatischen Klinik Bad Bramstedt.
„Jemand, der den ganzen Tag damit verbringt, nur Tofu und Quinoa-Kekse zu essen, kann sich so heilig fühlen wie jemand, der sein ganzes Leben der Unterstützung der Obdachlosen gewidmet hat“, beschreibt Bratman das Suchtverhalten eines Orthorektikers. Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung definiert das Phänomen folgendermaßen: „Während sich anorektische Patienten auf die Quantität des Essens konzentrieren, steht bei Orthorektikern die Qualität des Essens im Vordergrund.“
Welche Art von Mangelernährung Orthorektiker wählen, ist sehr unterschiedlich. Die Bandbreite reicht von Menschen, die krebserregende Nahrungsmittel umgehen, bis zu Betroffenen, die ihre Hirse in Afrika bestellen und darüber eine wirklich ausgewogene Ernährung vernachlässigen. Gemeinsam ist ihnen die krankhafte Fixierung auf ihr vermeintlich gesundes Essen. In einem Selbsttest für Orthorektiker fragt Bratman beispielsweise: Verbringen Sie am Tag mehr als drei Stunden damit, über gesunde Nahrung nachzudenken? Empfinden Sie Frieden und ein Gefühl totaler Selbstkontrolle, wenn Sie Ihre Diät einhalten? In jedem Fall ist der gesundheitliche Wert einer Speise für Orthorektiker wichtiger als das Essvergnügen.
„Gedanken, die nur um das Essen kreisen“, kennt Claudia Müller vom Frankfurter Zentrum für Essstörungen von allen ihren Klientinnen und Klienten. In der Therapie gehe es bei Magersüchtigen, Bulimikern, Esssüchtigen und Orthorektikern deshalb gleichermaßen darum, die Ursachen der Essstörung anzugehen. „Diese sind immer mehrdimensional und liegen in den seltensten Fällen im Essverhalten der Betroffenen“, so Müller. Vielmehr fungiert die Essstörung mit Zwangscharakter meist als Ventil für andere Probleme. Häufig finden sich soziale Isolation oder heftige Schuldgefühle im Hintergrund einer solchen Störung, die eng mit der Magersucht verwandt ist. Nicht selten ist die Orthorexie eine Art Einstiegsdroge für die Magersucht. Müller beobachtet, dass hinter gesunder Ernährung oft ein Gedanke steckt, der auf eine Magersucht hinweist: „Was ungesund ist, macht auch dick.“
Von einer eigenen Form der Essstörung, so der Mediziner Nutzinger, könne man noch nicht sprechen. „Man weiß bisher zu wenig, um die Krankheit eindeutig klassifizieren zu können. Orthorexie könnte eine Vorstufe für eine Zwangserkrankung oder eine Essstörung sein.“
Umso mehr warnt der Arzt vor den Gesundheitsschäden, die Menschen mit einem zwanghaft gesunden Essverhalten drohen. „Die einseitige Mangelernährung der Orthorektiker kann lebensgefährlich sein“. In der Therapie gehe es darum, einen Ausstieg aus dem Zwangsverhalten zu bewirken – zurück zu einer wirklich gesunden Ernährung.