piwik no script img

Kuscheln kann helfen

In der Hamburger Kuschelpraxis können einsame Menschen Nähe finden – ganz ohne Hintergedanken. Das kann sich positiv auf die Gesundheit auswirken

Von Marthe Ruddat

Ein graues Ecksofa steht unter dem Fenster des kleinen Raums in Hamburg-Bahrenfeld. Es ist so etwas wie das Herzstück der Kuschelpraxis, die Alexandra Ueberschär im Oktober gemeinsam mit Alicja Behrens eröffnet hat. Kuschelpraxis klingt irgendwie niedlich. Aber „Kuscheln ist eine ernste Sache“, sagt Ueberschär.

Sie nennt sich selbst Kuscheltherapeutin. Ein geschützter Begriff ist das nicht, sie hat keine spezielle Ausbildung. Ueberschär hat unter anderem als Krankenpflegerin gearbeitet und sich zum Coach ausbilden lassen. Und als Coach habe sie gemerkt, dass Sprechen den Menschen oft nicht ausreicht, sagt sie. Manchmal braucht es einfach eine Umarmung.

„Die Gesellschaft hat ihre Bedürfnisse überintellektualisiert“, sagt Ueberschär. „Selbst beiläufige Berührungen, wie sie Kinder oft machen, haben wir Erwachsenen uns abtrainiert.“ Und viele Menschen sind deshalb einsam.

So auch die Kli­en­t*in­nen in der Kuschelpraxis. Trotzdem: Den oder die typische Klient*in gibt es nicht, sagt Ueberschär. „Einsamkeit hat viele Gesichter.“ Menschen jeden Alters kämen zu ihr. Manche hätten auch einen stabilen Freundeskreis, doch das Bedürfnis nach Berührung überfordere diesen manchmal.

Wer sich nach einer Umarmung sehnt, kann online einen Termin in der Kuschelpraxis buchen. Eine Stunde Kuscheln kostet 80 Euro. Und wer erst einmal herausfinden will, ob das Kuscheln überhaupt das Richtige für sie oder ihn ist, kann einen Schnuppertermin für 55 Euro buchen. Es gibt auch Kuschelevents, beispielsweise ein Kuschelseminar und Kuschelabende. Im Januar wird es erstmals einen Abend nur für Frauen geben.

Wer einen Termin in der Praxis bucht, unterschreibt zu Beginn eine Vereinbarung, nach welcher sexuelle Handlungen untersagt sind. „Abgrenzung ist natürlich wichtig“, sagt Ueberschär. „Das schaffen wir durch den klaren Rahmen hier in der Praxis, durch die klaren Rollen, die zeitliche Begrenzung und die Bezahlung.“ Sexualität spiele keine Rolle, es finde auch keine Stimulation statt. Vielmehr gehe es um Halt, Geborgenheit.

Trotzdem könne es vorkommen, dass ein Mann eine Erektion bekommt, sagt Ueberschär. „Männer sind oft darauf konditioniert, dass Kuscheln nur im sexuellen Kontext existiert.“ Deshalb könne der Körper entsprechend reagieren, obwohl sich der Mann gar nicht erregt fühlt. Der Kontakt werde dann einfach kurz gelöst.

Hilfe suchen ist schwer

Sich Hilfe in einer Kuschelpraxis zu suchen, sei für viele eine Überwindung, hinter der oft große Not stecke. „Hier war noch niemand für Wellness“, sagt Ueberschär. Die Klient*innen hätten vielmehr die Erkenntnis gehabt, dass sie sich selbst helfen müssen.

Wie wichtig diese Selbstfürsorge ist, erklärt Sonia Lippke. Sie ist Professorin für Gesundheitspsychologie und Verhaltensmedizin an der Jacobs University Bremen und beschäftigt sich mit der Frage, was Einsamkeit beim Individuum bewirkt. „Wir sehen, dass sich Menschen, die sich einsam fühlen und dieses Gefühl nicht ernst nehmen, weniger Lebensqualität wahrnehmen und eher krank werden“, sagt sie. Einsamkeit könne beispielsweise im Zusammenhang mit Depressionen stehen. Aber auch da sei die Frage, was zuerst da war, also ob die Einsamkeit Ursache oder Symptom einer Depression sei.

Das beste Mittel gegen Einsamkeit seien stabile, qualitativ wertvolle Beziehungen. Die Kuschelpraxis sieht Lippke trotzdem positiv: „Physiologisch betrachtet ist Oxytocin eines der wichtigen Hormone, das hilft, gesund zu bleiben.“ Freigesetzt wird es durch Körperkontakt. Solange Grenzen eingehalten würden, spreche nichts gegen die Kuschelpraxis, auch wenn dort keine nachhaltigen Beziehungen geknüpft werden. „Aber es kann insofern nachhaltig sein, als dass man dadurch erste Ängste, andere Menschen zu treffen, überwinden kann.“

Ueberschär hofft, dass bald auch Menschen in ihre Praxis kommen können, die sich die 80 Euro für eine Kuschelstunde nicht leisten können – vielleicht könnte das Geld von einer Stiftung kommen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen