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Archiv-Artikel

Weg von der Postkarte

THEATER In der 3. Theaterakademie Panorama Sur in Buenos Aires diskutieren Autoren und Regisseure aus Kuba, Argentinien und Bolivien über ein neues Selbstverständnis

Buenos Aires hat die höchste Theaterdichte der Welt. Die produktive Off-Szene der Stadt spielt in Wohnhäusern und alten Lagerhallen, auf Dachböden und in Kellern

VON ANNE PHILLIPS-KRUG

Dichter Verkehr schiebt sich die Avenida Corrientes entlang. Unter grellbunten Werbetafeln drängen sich Geschäftsleute, Touristen und Studenten auf dem breiten Bürgersteig. Händler bieten Tango-CDs und Kinofilme auf DVD an. Als Märchenfiguren verkleidete Männer und Frauen verteilen Flyer für ein Kindermusical.

Hoch über dem Trubel der Geschäftsstraße im Zentrum von Buenos Aires, im vierten Stock eines Wohnhauses, sitzt Alejandro Tantanian in einem lichtdurchfluteten Seminarraum und wartet auf die Teilnehmer des Autorenseminars. Der argentinische Dramatiker und Regisseur ist Mitbegründer der Theaterakademie Panorama Sur in Buenos Aires. Vier Wochen lang treffen sich hier Theatermacher aus Lateinamerika, Europa und den USA, um in Workshops, Vorträgen und einem Autorenseminar über Theater zu diskutieren.

Ziel der von der Associación para el Teatro Latinoamericano und der Siemens Stiftung getragenen Arbeitsplattform ist die Vernetzung der Theaterszenen der einzelnen Länder Lateinamerikas. Damit antworte Panorama Sur auf ein großes Vakuum, sagt Tantanian: „Lateinamerikanische Theatermacher lernen sich oft eher auf europäischen Festivals kennen als auf dem eigenen Kontinent. Wir wissen alles über das europäische Theater, aber kaum etwas über die Regisseure, Autoren und Themen der Theaterszenen von Peru, Bolivien oder Mexiko.“

Es geht darum, die oft einseitige Fixierung auf Europa aufzubrechen und den Blick auf die eigene Theaterarbeit in Lateinamerika zu richten. Dass das Projekt ein Bedürfnis trifft, zeigen die hohen Bewerberzahlen und vor allem das große Interesse, das die Autoren des Seminars aneinander haben: 19 junge Dramatiker aus Argentinien, Mexiko, Peru, Bolivien, Kolumbien, Chile, Uruguay, Kuba, Venezuela, Spanien und den USA.

Buenos Aires hat die höchste Theaterdichte der Welt. Neben dem kommerziellen und Boulevardtheater und einigen Stadttheatern gibt es eine sehr produktive, größtenteils selbst verwaltete Off-Sene. Praxis und Ästhetik dieser Theaterszene sind von ihren Produktionsbedingungen geprägt. Weil es so gut wie keine staatlichen Subventionen gibt, suchen sich die Theatermacher oft Nischen und weichen in unkonventionelle Räume aus – gespielt wird zum Teil in Wohnhäusern und alten Lagerhallen, auf Dachböden und in Kellern –, und erreichen damit ein breites Publikum. „So etwas wie Schwellenangst gibt es nicht, Theater ist Teil der Alltagskultur, und es gehört allen“, sagt der Dramatiker und Regisseur Matías Umpiérrez aus Buenos Aires. „Es existiert eine große Offenheit und Bereitschaft, sich immer wieder auf neue Situationen einzulassen, sowohl bei den Theatermachern als auch beim Publikum.“ Dass man vom Theater nicht leben könne, wisse man. „Wenn du Geld verdienen willst, überstehst du keine zwei Jahre. Der Antrieb, Theater zu machen, ist kein ökonomischer, sondern hat viel mit Leidenschaft zu tun. Natürlich ist die kulturpolitische Situation prekär, aber sie begründet in Teilen auch die große theatrale Energie der Stadt.“

Die Frage, wie zugänglich das Theater in den einzelnen Ländern ist und welche Rolle es im gesellschaftlichen Alltag spielt, wird im Autorenseminar rege diskutiert. Die Dozentin Agnieska Hernández wurde 1977 in Pinar del Río geboren, der Hauptstadt der gleichnamigen Provinz im Westen Kubas. Als sie anfing, sich für Theater zu interessieren, zeigte das einzige Theater im Ort García Lorcas „Bluthochzeit“ in der Dauerschleife, aufgeführt im Stil der französischen Klassik.

Sie wollte das Theater zur kubanischen Gegenwart in Beziehung setzen und organisierte in ihrer Heimatstadt eine öffentliche Intervention, bei der sie auf der Straße Objekte gegen persönliche Geschichten tauschte. Viele Menschen kamen auf sie zu, die „große Geschichten hatten, aber nicht wussten, wie sie sie erzählen sollen“. Mit ihrer Gruppe aus Amateur- und professionellen Schauspielern zeigt sie seitdem Stücke, in denen sie mit solchen Realitätsfragmenten arbeitet.

In Kuba ist Agnieska Hernández mit ihrem Dokumentartheater aber eine Ausnahme. Sie vermisst junge kubanische Autoren. Anders als in Argentinien gibt es in Kuba fast ausschließlich Subventionstheater. Eine ambivalente Situation, findet Hernández, gehe sie doch einher mit einer bestimmten ästhetischen Stagnation. „Die Mittel, die es gibt, werden auf eine Anzahl Gruppen und Regisseure verteilt, die sich vor Jahren etabliert haben und oft immer noch dasselbe Theater machen wie damals. Neuere Autoren und Regisseure kommen da nicht rein.“

Von Bolivien erzählt Eduardo Calla aus La Paz. Dort gelten seine und andere unabhängige Gruppen als Teil einer seltsamen Subkultur. Er kritisiert einen seit den 50er Jahren stehen gebliebenen Theaterbegriff, von Unterhaltung, Klassikern und einem folkloristischen Selbstbild bestimmt. „Es hat sich ein Schema etabliert, das das Theater bis heute definiert, aber keinen mehr wirklich interessiert, weil es sich abgenutzt und mit dem Heute nichts mehr zu tun hat“, sagt Calla.

In seiner Arbeit sucht er Zugang zu diesem Heute und experimentiert mit subjektiven und gesellschaftlichen Identitätskonzepten – „auch ohne Lamas und Poncho“. Die Suche nach einem neuen Selbst- und Theaterverständnis bestimmt für Calla das Theater in ganz Lateinamerika, vor allem auf den lateinamerikanischen Festivals. „Bis vor Kurzem war es unvorstellbar, dass außerhalb Boliviens etwas anderes gezeigt wurde als die Gruppe El Teatro de los Andes, die andinische Postkarte, die seit 20 Jahren das Bild des bolivianischen Theaters prägt. Aber seit einigen Jahren werden auch andere Gruppen eingeladen. Es gibt ein großes Interesse daran, das lateinamerikanische Selbstbild neu zu definieren.“