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Archiv-Artikel

Angekommen

WANDEL Jürgen Trittin, der mächtigste Grüne der Republik, will 2013 Vizekanzler werden. Aus dem Hausbesetzer beim Kommunistischen Bund wurde ein Staatsmann an der Seite der Kanzlerin. Wann hat er mit sich gebrochen?

Kandidaten-Quartett

■ Das Tableau: Vier prominente Grüne wollen als Spitzenkandidaten in den Wahlkampf 2013 ziehen. Außerdem haben sich zwei unbekannte Basisgrüne beworben. Wer im Duo landet, entscheiden voraussichtlich die 59.000 Parteimitglieder per Urwahl.

■ Jürgen Trittin: Status: Gilt als gesetzt. Grüner seit: 1980. Erstes Amt: 1985, Fraktionschef Niedersachsen. Stärke: Merkelesk. Schwäche: Marktplatzplauderei.

■ Renate Künast: Status: Sitzt Berlin-Desaster im Nacken. Grüne seit: 1979. Erstes Amt: 1990, Fraktionschefin Berlin. Stärke: Renate kämpft. Schwäche: Renate kämpft.

■ Claudia Roth: Status: Beliebt bei der Basis. Grüne seit: 1987. Erstes Amt: 1982, Ton-Steine-Scherben-Managerin. Stärke: Umarmt gern. Schwäche: Nervt.

■ Katrin Göring-Eckardt: Status: Punktet im bürgerlichen Lager. Grüne seit: 1990. Erstes Amt: 1995, Landeschefin Thüringen. Stärke: Glaubt. Schwäche: Basis glaubt nicht.

VON ULRICH SCHULTE

Was denn bitte schön der Herr Trittin gegen den Wolf tun wolle, der die Schafe auf der Alm reißt? Georg Mair – erster Vorsitzender des Almwirtschaftlichen Vereins Oberbayern, hochgekrempelte Hemdsärmel, Lederhose mit aufgesticktem Staatswappen – lässt das Mikrofon sinken und schaut hinunter auf die Holzbank. Da sitzt Jürgen Trittin – Vorsitzender der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen, dunkelblaue Shorts, Wanderschuhe.

Der Mann auf der Bank will 2013 die Grünen in die Regierung führen. Er kann das nur schaffen, wenn er Verlässlichkeit ausstrahlt, Vertrauen gewinnt, das weiß er. Deshalb ist der Wolf so wichtig.

Über Trittin hängt eine Kuhglocke, in die ein Kruzifix eingraviert ist, am Balkon der Almhütte. An Holztischen trinken ein paar hundert Zuhörer Helles aus dem Herzoglichen Brauhaus gegen die Augusthitze. Der Klammberg und der Platteneck ragen am Horizont in den blanken Himmel über den bayrischen Voralpen. Feindesland, 1.114 Meter über dem Meeresspiegel. Gut 68 Prozent der Erststimmen holte die CSU im Nachbarort bei der letzten Bundestagswahl.

Vorletztes Jahr ließ sich der Wolf zum ersten Mal seit fast 200 Jahren hier blicken. Offiziell riss er 19 Schafe, die Bauern reden von 40. Ein Riesenthema. Viele würden das Tier, käme es wieder, am liebsten abschießen.

Vom Kommunistischen Bund zum Staatsmann

Jürgen Trittin nimmt dem Almbauern Georg Mair das Mikrofon ab. Er kenne das Problem, sagt Trittin, auch in der Lüneburger Heide gebe es Wölfe. Aber für jede Region brauche es regionsspezifische Lösungen. Man könne etwa von den Erfahrungen aus dem Nationalpark im schweizerischen Hochtal Engadin lernen. Dort gebe es mittlerweile ein kluges Wolfsmanagement. Übrigens, schiebt Trittin hinterher, ihre bayrische Umweltministerin würden die Grünen dann im kommenden Jahr mal zur Almbegehung schicken.

Stille an den Tischen, Mair schaut verdutzt. Dann lautes Gelächter.

In diesem Moment, zwischen den weidenden Jungkühen und der Bergkulisse, scheint der letzte Beleg erbracht, dass Trittin sich gewandelt hat. Mit 58 Jahren ist der mächtigste Mann der Grünen, der irgendwie immer schon da war, in der Mitte angekommen. Selbst hier, wo es noch nicht lange her ist, dass sie Grüne für strickende Ökos hielten, die Kröten über Straßen tragen. Und Trittin für den Gottseibeiuns.

Er besetzte als Student in Göttingen 1980 die Augenklinik, debattierte mit Genossen im Kommunistischen Bund und lümmelte noch als Bundesminister so pubertär im Sessel herum, dass es seinen eigenen Leute vor dem Fernseher peinlich war. DJ Dosenpfand.

Heute ist Trittin ein Staatsmann, so sehr, dass sich linke Kreisverbände und die Grüne Jugend etwas mehr Rebellentum wünschen würden. Trittin sucht den Bundespräsidenten aus, rettet mit der Kanzlerin Europa, er wird die Partei, das ist so gut wie sicher, im Wahlkampf anführen. Wenn es Rot-Grün 2013 schafft, dann wäre er gern Finanzminister und Vizekanzler, der zweitwichtigste Mann im Staat.

Was ist zwischendurch mit Trittin passiert?

„Tja“, brummt Gerhard Schröder und lehnt sich zurück. Er dreht ein Foto in der Hand, darauf Trittin, mit buschigem Schnäuzer, der neben Schröder sitzt und mit Füllfederhalter den in Rot und Grün gebundenen Koalitionsvertrag unterschreibt – 20. Oktober 1998, erstmals regieren SPD und Grüne Deutschland.

Niemand weiß so gut wie Gerhard Schröder, wie Jürgen Trittin regiert. Der lange Dünne diente unter dem kantigen Kleinen vier Jahre in Niedersachsen als Minister für Europa und den Bundesrat, dann sieben Jahre als Umweltminister im Bund. Der Chef nahm seinen Trittin mit.

Schröder, 68, viele kleine Fältchen im braun gebrannten Gesicht, die Stimme so sonor wie eh und je, war noch mal kurz vor der Tür, um die obligatorische Zigarre zu holen. Die Lamellenjalousien vor den Fenstern seines Büros in Hannover sind zugezogen. An der Wand hängen schwarz-weiße Porträtfotos der Exkanzler: Adenauer mit Habichtsnase, Kohl mit verschmitztem Lächeln, Schröder ernst und gerade. Nur eine fehlt. Die Ära Merkel ist hier noch nicht angekommen.

„Trittin hat an Statur gewonnen“, sagt er und bläst Rauch über den Tisch. „Früher war er der Buhmann der Nation, der allenfalls durch seine Sachkenntnis beeindrucken konnte. Inzwischen hat er sich einen staatsmännischen Habitus erarbeitet.“

Die Finanzkrise, die zur Eurokrise wurde, ist die Chance für den Staatsmann Trittin. Vor Jahren hat er ihre strategische Bedeutung erkannt, als einer der Ersten. Er trimmt die Grünen auf eine staatstragende Haltung. „Wer regieren will, darf keine Fundamentalopposition machen. Die Leute nehmen Trittin Ernsthaftigkeit ab“, sagt Schröder in seinem Erkerzimmer.

Trittin ist ein Politiker vom Typ Dozent, einer, der die Details liebt – komplizierte Graphen auf Powerpoint-Folien, Fakten, mit denen er Gegner übertrumpft. Wolfsmanagement im schweizerischen Hochtal Engadin.

Schröder sagt: „Wenn es um die Wurst ging, stand er“

In der innenpolitischen Diskussion über Europa hat Trittin eine Schlüsselrolle inne, auch wegen seiner akribischen Einarbeitung. Er liest die in bürokratischem Englisch geschriebenen Papiere aus Brüssel im Original, anstatt wie andere Abgeordnete die deutschen Zusammenfassungen der Fachsprecher. Er weiß, dass gerade die Grünen ohne finanzstarke Lobby im Stoff sein müssen. Und dass er, dem das Charisma fehlt, zum Ausgleich die Fakten braucht.

Im Plenarsaal des Bundestags zerhackt er die Vorredner, pickt mit dem Zeigefinger in die Luft, dazu wippt das störrische Haarbüschel auf der hohen Stirn. Wenn Trittin über die FDP herzieht, muss ab und zu selbst Volker Kauder grinsen, der hartgesottene Unions-Fraktionschef. Merkel oder Schäuble gegen Trittin, das war in den vergangenen Monaten das wahre Duell im Parlament. Für die Kanzlerin empfindet Trittin Hochachtung, weil sie die Dinge rational vom Ende her denkt. So wie er selbst.

„Ich halte Trittin für sehr verlässlich. Ein Ja heißt bei ihm ja, ein Nein heißt nein“, sagt Gerhard Schröder. „Wenn wir im kleinen Kreis etwas verabredet hatten, dann ging er raus und verteidigte das.“

Man kann es auch so sagen: Trittin spurt. Anfang der Neunziger, im Ministeramt in Niedersachsen, trägt er die Daimler-Teststrecke mit, die Erdgaspipeline, die Emsvertiefung. „Wenn es um die Wurst ging, dann stand Trittin“, sagt Schröder. Nie hätte der grüne Stratege die Koalition platzen lassen, lieber mutet er seinen Leuten Verbiegungen bis an die Schmerzgrenze zu. Die Partei holt damals knapp über 5 Prozent, Trittin will unbedingt beweisen, dass Grüne regieren können. Es gibt ungezählte linke Grüne oder Aktivisten von Bürgerinitiativen, die sich von Trittin verraten fühlen. Ihn einen Zyniker nennen.

Denn Schröder und Trittin spielen Theater. Sie beschimpfen sich in Interviews, inszenieren Streit, um vor ihren Leuten das Gesicht zu wahren. Aber dann sitzen sie wieder zusammen und knobeln Bundeskabinette aus.

Trittin ist kein pragmatischer Linker. Er ist ein linker Pragmatiker.

Ein Plattenbau in Berlin-Friedrichshain. In der sozialistischen Tageszeitung Neues Deutschland verabschiedet der Pförtner die Angestellten per Handschlag, ein Paternoster fährt hoch in die Redaktionsetage. Jürgen Reents, 63, hat sich seine Brille auf die Halbglatze geschoben und steckt sich eine Gauloise an. Reents führte 13 Jahre lang die Geschicke des Blattes, das der Linkspartei nahe steht. Er kennt Trittin aus den Gründungsjahren der Grünen, sie sind bis heute befreundet.

Lieber zwei Schritte zurück, um wieder einen vorwärts gehen zu können. Überzeugungen zurückstellen, damit man weiter verändern kann. „Das ist die Lenin’sche Schule“, sagt Reents. Trittin sei viel mehr Realpolitiker, als es Joschka Fischer gewesen sei. Aber: „Er hat in seinen Funktionen immer versucht, mehr auszutesten als andere.“ Trittin habe sich – anders als viele Grüne – eine hohe Konfliktbereitschaft gegen den Mainstream bewahrt.

Er blieb da, als andere abtraten

Das ist eine höfliche Untertreibung. Trittin versaute es sich mit dem Mainstream so gründlich, als sei es im Koalitionsvertrag vereinbart gewesen. Der „Rüpel vom Dienst“ (Spiegel) demonstriert „misstrauische, lauernde Verschlossenheit“ (Die Zeit). Die Medien schießen sich zu Beginn der rot-grünen Koalition im Bund auf Trittin ein. Und Trittin bolzt sein Programm durch. Er schlägt die Schlachten gegen die Energiekonzerne, legt sich wegen der Altauto-Richtlinie mit VW und Daimler an. Der Autokanzler soll kurz davor gewesen sein, Trittin rauszuschmeißen – beide bestreiten eine solche Drohung heute.

Aber Trittin setzte sich durch. Die Altauto-Richtlinie kam, das verspottete Dosenpfand, der Atomausstieg. Und was vielleicht noch wichtiger ist: Trittin blieb einfach da, als die anderen abtraten. Er hat Schröders Demütigungen ertragen, der mal sagte, die Politik brauche „mehr Fischer, weniger Trittin“. Er hat Joschka Fischer ertragen, den ewigen Rivalen und anderen großen Grünen, ohne den Trittin nicht zu verstehen ist.

Fischer selbst will nicht über Trittin reden, sein Büro antwortet mit einer knappen Absage. Und Trittin über Fischer?

Trittin sitzt auf der Rückbank seines Dienstwagens, den Arm auf der Mittelstütze, die Knie weit auseinander, damit der Mitarbeiter vorn genug Platz hat. Es geht vom Münchner Flughafen ins Hotel. Trittin schaut nach vorn, nur selten zur Seite.

Seine Antworten klingen immer etwas verschraubt, weil sie bis zur letzten Silbe kalkuliert sind, doch wenn er über Fischer spricht, bekommen die Sätze den Ton von Verlautbarungen eines Zentralkomitees. „Ich war dafür zuständig, das grüne Kernthema erfolgreich durchzuarbeiten. Seine Aufgabe war, den Nachweis zu erbringen, dass die Grünen das als ungrün angesehene Amt des Außenministers voll ausfüllen. Beides hat funktioniert.“

Trittin litt lange wie ein Hund unter dem sechs Jahre Älteren, der ihm immer ein paar Schritte voraus war. Es ging auch um Anerkennung, ums Geliebtwerden, sagen Menschen, die beide kennen. Fischer, der Charismatiker, wurde angehimmelt. „Auf Fischer rannten sie damals zu, vor Trittin wichen sie zurück“, sagt ein Grüner.

Mitte der Neunziger – Fischer führt die Fraktion in Bonn, Trittin als Vorstandssprecher die Partei – warf er eine Parlamentskorrespondentin der Süddeutschen Zeitung aus seinem Hintergrundkreis, in den er regelmäßig Journalisten einlud. Weil sie sich in einem Kommentar auf die Seite Joschka Fischers geschlagen hatte.

„Ich schmeiße nicht mit Laptops“, sagt Trittin knapp

Bei einem Wutanfall gegen eine Mitarbeiterin soll Trittin in der Bonner Zeit einen Laptop durch den Raum geworfen haben. Einer Nachrichtenagentur, die über den „Wurfgewaltigen“ schrieb, lässt er die Anspielung untersagen, auch heute sagt er dazu: „Ich schmeiße nicht mit Laptops.“ Doch Leute von damals versichern, dass die oft dementierte Geschichte stimmt.

Krista Sager sticht mit dem Löffel in ein portugiesisches Puddingtörtchen. Die Bundestagsabgeordnete, 59 Jahre alt, eine energische Frau mit Hornbrille und leichtem hanseatischem Dialekt, war damals in den Neunzigern zwei Jahre lang Vorstandssprecherin neben Trittin. In einem Café in Nähe der Reeperbahn in Hamburg erzählt sie von damals. Sie lacht oft dabei.

Bei den Grünen tobte der Streit über den Bosnienkrieg. Sager war für einen Einsatz, Trittin dagegen. Sie erinnert sich, wie sie als einzige Vertreterin des Realo-Flügels mit acht Parteilinken im Vorstand saß. Wenn sie argumentierte, blätterte Trittin demonstrativ in Zeitungen.

Sie fetzten sich auch öffentlich. Eine Bundesversammlung fand in Bremen statt, vorher interviewten drei Redakteure des Weser-Kuriers Sager und Trittin, die beiden zerstrittenen Chefs. „Schrei mich hier nicht nieder“, herrscht Sager irgendwann ihren laut werdenden Kollegen an. Später, als das Interview zur Abnahme vor dem Druck in Sagers Büro liegt, fragt eine Mitarbeiterin Trittins an, ob sie den Satz nicht rausstreichen wolle. Dann noch mal die Pressesprecherin. „Habe ich aber nicht gemacht.“ Sager lacht. Der Satz bleibt drin.

Für Jürgen Trittin, den Perfektionisten, der ab und an zu cholerischen Anfällen neigt, ist Kontrolle entscheidend. Trittin sitzt wieder im Dienstwagen, dieses Mal zum Münchner Flughafen. Der Fahrer nimmt einen Umweg, Stau auf der Autobahn. Trittin checkt auf dem Smartphone die Flüge, ruft beim Lufthansa-Desk an. Früher wäre er in so einem Fall nervös geworden, sagt Trittin. „Ein Verkehrsstau ist schuld an meinem größten Fehler.“

2001 sagt er in einem Radiointerview, Laurenz Meyer, der glatzköpfige CDU-Generalsekretär, habe nicht nur das Aussehen, sondern auch die Mentalität eines Skinheads. Er ringt lange mit sich, bevor er sich persönlich am Telefon entschuldigt. Meyer ist ein Feind, seine Deutschtümelei findet Trittin, der in Hannover für Flüchtlingspolitik zuständig war, widerlich. Aber der Fehler mit dem Stau, der Kontrollverlust, der ärgert ihn noch heute. „Man muss die Surroundings anpassen, den Rahmen – und solche Situationen vor Interviews ausschließen.“ Es ist der Rahmen, der die Fehler macht, nicht der Trittin.

Trittin stammt, anders als Arbeiterkinder wie Schröder, aus dem bürgerlichen Milieu. Er wird in dem Bremer Stadtteil Vegesack geboren, der Vater arbeitet als Prokurist bei einem Textilunternehmen, das Taue und Netze für Schiffe herstellt. Der Sohn spielt Handball im Verein, macht sein Abitur 1973.

Es ist die Zeit des Vietnamkriegs, des Attentats auf Rudi Dutschke, der Studentenrevolte. Schon als Schüler treibt es Trittin zu Demos auf die Straße. Er erklagt sich die Wehrdienstverweigerung, zieht zum Sozialwissenschaftsstudium nach Göttingen, schließt sich dem Kommunistischen Bund an.

Trittin trägt das Haar schulterlang und diskutiert mit Kommilitonen in überfüllten, verqualmten Hörsälen über das System. Abends treffen sich die Genossen im Theaterkeller. Der örtliche Kommunistische Bund schmiedet Bündnisse mit den Jusos, was bei anderen Linksradikalen verpönt war – um die Macht im Studentenparlament zu bekommen, erzählt ein Göttinger Genosse. „Das Grundmuster, wie Jürgen Politik macht, hat er damals gelernt: Flexibel bleiben und Bündnisse suchen.“

Trittin verinnerlicht in diesen Jahren eine Regel, die ihm bei der Skinhead-Sache fast zum Verhängnis wurde: In der Politik muss man scharf schießen. Anders geht es nicht, wenn einem die Leute vom RCDS, der Unions-nahen Studentenorganisation, in der Vollversammlung „Linke Chaoten!“ entgegenbrüllen.

Irgendwann zu dieser Zeit muss sich Trittin entschieden haben, dass es mehr bringt mitzuspielen, als das System von außen zu kritisieren. Als eine Grün-Alternative Liste Anfang der Achtziger in den Stadtrat springt, führt er die Geschäfte der dreiköpfigen Fraktion. Ein Halbtagsjob, mittags kocht er für seine Stieftochter, um die er sich kümmert, seit er Mitte 20 ist. Mit Anfang 30 sitzt er als Fraktionschef im Landtag, mit Mitte 30 wird er Minister. Eine rasante Berufspolitikerkarriere. Bis zur Debatte über Wolfsmanagement mit CSU-wählenden Almbauern ist er gekommen, bis zur Euro-Diskussion mit der Kanzlerin.

Das Lenin’sche Prinzip aus Unizeiten greift noch

Aber vielleicht steckt dahinter gar nicht so viel Veränderung, wie es zunächst scheint. Vielleicht ist das Geheimnis des Jürgen Trittin gar, dass er sich gar nicht verändert hat. Als Linksradikaler mit den Jusos paktieren, um das Studentenparlament zu kapern, oder als Grünen-Stratege mit Merkel den Fiskalpakt beschließen – alles funktioniert nach dem Prinzip, dass er so früh verinnerlichte. Kompromisse zum Erhalt der Gestaltungsmacht. Zwei zurück, einen vor.

Nur ist Trittin milder geworden seit einiger Zeit. Das hat mit dem Alter zu tun und dem Herzinfarkt, den er vor zwei Jahren erlitt. Und natürlich hilft die erfreuliche Tatsache, dass Fischer, der Rivale, weg ist. Trittin ist zu einer lässigeren Autorität geworden, kümmert sich, organisiert auf Reisen vom Auto aus ein spätes Essen für alle, scherzt mit dem nervösen Rezeptionisten.

Man könnte sagen: Der öffentliche Trittin lässt den privaten, anderen Trittin, den seine Bekannten, Nachbarn und Freunde beschreiben, öfter zu.

Ein Menschenfänger wird er dennoch nie werden. Erkennt ihn ein Rentner auf der Straße und möchte ein bisschen plaudern, verschränkt Trittin im ersten Moment die Arme vor der Brust, zu dieser typischsten aller Trittin-Gesten, und schaut von 1,96 Metern auf ihn herunter. Erst mit Verzögerung zieht er seine Rechte wieder heraus, um die Hand des anderen zu schütteln.

Beim Aufstieg auf die Alm stapft Trittin Schritt für Schritt von Felsbrocken zu Felsbrocken, 17 Kilometer. Die Sonne brennt, fast 30 Grad Hitze, eine höllische Steigung. Trittin rinnen Schweißtropfen in die Augen, am Handgelenk piepst sein Pulsmesser wie wild.

Ein Wanderer mit Knotenstock lässt sich zurückfallen. Drängelt sich neben ihn. Will mal reden mit dem Trittin aus dem Fernsehen, wenn er die Gelegenheit schon mal hat. Über die Energiewende und das alles.

Trittin kommt aus dem Tritt, es ist eigentlich zu eng für ein Nebeneinander. Er zögert kurz, schaut herum, atmet ein paar Mal tief ein. Dann passt er seinen Schritt an.

■ Ulrich Schulte, 37, leitet das Parlamentsbüro der taz