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Archiv-Artikel

Einschulung im Eiltempo

Zum heutigen Schulbeginn präsentiert Bildungssenator Klaus Böger (SPD) 170 neue Pädagogen. Sie wurden in der Sommerferien ad hoc eingestellt. Opposition und GEW kritisieren das „Lehrercasting“

VON RAFAEL BINKOWSKI

Eigentlich hatte Julia Bensmann sich schon von ihrem Traumberuf verabschiedet. Nach unzähligen erfolglosen Bewerbungen und drei Jahren Arbeitslosigkeit hatte sich die 36-jährige alleinerziehende Mutter von vier Kindern neu orientiert, Medienkurse für ausländische Eltern und Fortbildungen für Englischlehrer angeboten. Noch im Frühjahr hat sie sich erneut als Grundschulpädagogin beworben und sechs Absagen bekommen: „Danach wollte ich nicht mehr Lehrerin werden.“

Völlig überraschend erhielt die Zehlendorferin dann im Juli einen heißen Tipp eines Bekannten, der Anruf erreichte sie im Urlaub: „Die stellen plötzlich Lehrer ein.“ Die Senatsverwaltung für Bildung hatte entdeckt, dass ihre Frühjahrsprognose von 200 zusätzlichen Lehrstellen für das heute beginnende Schuljahr nicht der Realität entsprach. Auf die Schnelle mussten 170 Lehrer zusätzlich eingestellt werden, vor allem an den Grundschulen.

Bensmann brach ihren Urlaub ab und sprach im Landesschulamt vor. „Jede halbe Stunde haben sich zehn Bewerber vorgestellt“, erinnert sich die 36-Jährige, „das war wie beim Viehabtrieb.“ Zwei Minuten Zeit hatte sie, dann habe man ihr noch drei Fragen gestellt: „Können Sie zum 1. August anfangen? Sind Sie schwerbehindert? Haben Sie eine Wunschschule?“ Wenige Stunden später hatte Bensmann die Zusage. Und mit ihr weitere rund 170 Anwärter.

Doch nicht nur das Verfahren, auch die Auswahl ist umstritten. Der CDU-Bildungspolitiker Gerhard Schmid kritisiert zum Beispiel, man habe so genannte Bedarfsfächer nur nach statistischen Ermittlungen festgelegt: Englisch, Musik, Biologie und Sport. „In diesen Fächern ist jeder genommen worden, egal wie qualifiziert“, sagt Schmid. Dabei sei die Fächerstruktur in den Grundschulen gar nicht so wichtig. Die Opposition und die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) sind sich einig in ihrer Kritik an diesem Verfahren. „Wir haben schon im März gesagt, dass 200 Lehrstellen nicht ausreichen“, sagt Holger Dehring, bei der GEW für Personalfragen zuständig. Die Verwaltung habe Meldungen aus den Schulen und Dienststellen ignoriert, die einen höheren Bedarf angemeldet hätten. Zudem sei unterschätzt worden, dass mehr Pädagogen etwa durch Krankheit ausfallen oder in den Ruhestand gehen als angenommen.

Die GEW sieht den so genannten Bruttobedarf von 105 Prozent Lehrstellen nicht gedeckt. Nach einer Faustregel werden für je 100 reguläre Lehrstellen je 5 zusätzliche Kräfte als Vertretung benötigt. Selbst mit den jetzt sozusagen über Nacht eingestellten Lehrkräften sei die Versorgung nicht gewährleistet, meint Dehring. Er fordert eine „realistische Statistik“ und langfristige Planung.

Bildungssenator Klaus Böger (SPD) sieht das alles ganz anders. „Ich habe um diese zusätzlichen Stellen mit der Finanzverwaltung kämpfen müssen“, verteidigt er sich. Noch im Oktober 2004 habe man eine „Überdeckung“ von 109 Prozent gehabt. Exakte Schülerzahlen gebe es zudem immer erst im Juli. „Vorher können wir nichts genau sagen, weil viele Eltern ihre Kinder mehrfach melden, und weil die Schulleiter natürlich immer die höchstmöglichen Zahlen angeben“, erklärt Böger.

Richtig ärgerlich wird der Senator, wenn die Qualität der jetzt ad hoc eingestellten Lehrkräfte angezweifelt wird. „Es ist eine Unverschämtheit, Referendare mit der Note ‚befriedigend‘ als schlecht zu bezeichnen.“ Das zentrale Vorstellungsgespräch sei zudem eine Entlastung für die Bewerber gewesen. Sonst hätten sie in 15 Schulen antanzen müssen. Insgesamt wurden 170 Stellen nachbesetzt, mit der ersten Einstellungsrunde vom Frühjahr sind fürs neue Schuljahr insgesamt 563 neue Lehrer eingestellt worden. „Und die sind zum Schulbeginn alle an ihrem Platz“, so Böger.

Den aktuellen Zustand an den Schulen bezeichnet er als „produktive Verunsicherung“. Das drückt in etwa auch das Gefühl von Julia Bensmann aus. Sie freut sich natürlich auf ihre unverhoffte Chance, hat dennoch gemischte Gefühle: „Erst haben sie mich jahrelang nicht unterrichten lassen, und jetzt haben sie praktisch jeden genommen. Das ist schon seltsam.“