: Lichtblicke vor dem Sonnenblumenhaus
RASSISMUS Joachim Gauck spricht zum Gedenken: Demokratie braucht mutige Bürger wie den wehrhaften Staat
JOACHIM GAUCK
AUS ROSTOCK GABRIELA M. KELLER
Joachim Gauck hebt seinen Blick und holt tief Luft, ehe er zu seiner Ansprache ansetzt. Er steht auf der Bühne; hinter ihm erhebt sich ein kolossaler Plattenbau, ein ocker geklinkertes Wohngebirge, das Sonnenblumenhaus in Rostock-Lichtenhagen; vereinzelt lehnen Rentner auf den Fensterbänken. „Die Ereignisse, die uns zusammengeführt haben, sind zwar Vergangenheit“, sagt der Bundespräsident. „Aber auch die Gegenwart bleibt infiziert von Fremdenfeindlichkeit und Gewalt.“
Vor ihm auf den überdachten Sitzplätzen haben sich Regionalpolitiker, Journalisten und Ehrengäste niedergelassen, auch ein paar Vietnamesen sind darunter. Dahinter drängen sich die Menschen hinter der Absperrung. Es mögen mehr als 1.000 sein, vielleicht 2.000. Polizisten mit schwarzen Einsatzanzügen und Schlagstöcken haben sich dazwischen verteilt. Gauck nähert sich seinem heiklen Thema behutsam, er spricht mit ruhiger Stimme und zurückhaltenden Gesten, oft in einer Haltung, die daran erinnert, dass er früher einmal ganz in der Nähe als Pfarrer gearbeitet hat.
An diesem Sonntag gedenkt Rostock der schlimmsten rassistischen Ausschreitungen in Deutschland seit dem Kriegsende. Im August 1992 hatte sich ein Mob vor dem Sonnenblumenhaus versammelt, über Tage belagerten rechtsextreme Gewalttäter das Gebäude, in dem Asylbewerber und vietnamesische Gastarbeiter lebten. Die Gewalttäter warfen Steine und Brandsätze, das Haus fing Feuer, und rund 3.000 Schaulustige standen dabei und klatschten dazu Beifall.
Rostock, es ist wieder August, 20 Jahre später. Auf der Wiese hinter dem Sonnenblumenhaus herrscht eine gelöste, wenn auch etwas gedämpfte Stadtfeststimmung: Gerade hat ein Kinderchor gesungen, Paare und Familien schlendern in der Sonne umher, es gibt Bierstände, Luftballons und Bratwürstchen.
Joachim Gauck muss auf einer schmalen Gerade die Balance wahren: Einerseits wird von ihm erwartet, dass er klare Worte findet. Andererseits muss er achtgeben, die Rostocker nicht zu brüskieren, die sich noch immer schwer damit tun, ihre Erinnerungen zu verarbeiten. Hin und wieder wird er während seiner sorgfältig strukturierten Rede auch schärfer, härter. „Ich frage mich bis heute: Wie konnte die Staatsmacht das Gewaltmonopol so scheinbar schnell und leichtfertig aufgeben?“, fragte er. Die Demokratie müsse wehrhaft sein; sie brauche mutige Bürger, die nicht wegschauen, ebenso wie einen Staat, der in der Lage ist, Würde und Leben zu schützen.
Doch Joachim Gauck stößt auch auf Widerspruch: Er hat kaum zu reden begonnen, da erhebt sich aus dem Publikum ein Sprechchor: „Heuchler, Heuchler, Heuchler.“ Etwa ein Dutzend antifaschistische Demonstranten, denen der Bundespräsident offenbar in seiner Ansprache nicht weit genug geht. Gauck spricht weiter, als sei nichts geschehen; er bringt die Schwierigkeiten der Wendezeit zur Sprache und lobt die Rostocker für die zivilgesellschaftlichen Initiativen, die sie seither in Gang gebracht haben. Dann sagt er: „Wir versprechen euch Rechtsextremen: Wir fürchten euch nicht. Wo ihr auftaucht, werden wir euch im Wege stehen.“
Die Bundesrepublik, betont Gauck, sei heute ein Einwandererland; und natürlich komme es auch zu Herausforderungen und Konflikten, wenn Menschen verschiedener Kulturen zusammenleben. Auch würden sich die Ängste vor dem Fremden nie ganz beseitigen lassen. „Doch der Hass darf als Mittel der Konfliktlösung niemals geduldet werden“, sagte er, „das Dunkle und Böse lassen sich nur durch Vernunft und Empathie eindämmen.“
Als Bundespräsident Joachim Gauck schließt, bleibt Raphael Gerhard, 47 Jahre alt, noch einen Moment an der polizeilichen Absperrung stehen. „Ich fand es gut, dass er auch versucht hat, unsere Seite zu sehen“, meint der Lichtenhäger, der die Krawalle damals miterlebt hat. „Kein Wunder, er ist ja auch einer von uns. Wenn das Volk den Präsidenten in Deutschland wählen könnte, dann hätten wir alle für Gauck gestimmt.“ Auch die Rostockerin Ulla Tiggesbäumker ist mit der Ansprache zufrieden. „Sicher“, meint sie, „es waren viele Allgemeinplätze dabei, aber man muss es aussprechen. Und ich fand es mutig, dass er frei bekannt hat, dass wir hier im Osten wirklich ein Problem mit den Rechtsextremen haben.“