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Archiv-Artikel

Provokateure im Formtief

Nicht alle Bürger sind mit einer vorzeitigen Neuwahl des Bundestags einverstanden. Aber wehren tut sich niemand. Warum die Kultur des Protests in der Reality-Show der Politik kein Forum mehr findet

VON HELMUT HÖGE

1987 eskalierte am 1. Mai der Unmut über die polizeiliche Präsenz in Berlin-Kreuzberg derart, dass die Gegend um einen brennenden Supermarkt zu einer „bullenfreien Zone“ wurde. Der Innensenator ließ daraufhin den ganzen Stadtteil „SO36“ während des „Reagan-Besuchs“ von seinen Beamten abriegeln. Worauf die Provo-Aktionsgruppe „Büro für ungewöhnliche Maßnahmen“ mit einer Sperrung des Viertels – nach außen hin – reagierte. Diese wurde von den nach Autonomie strebenden Bewohnern des „Problembezirks“ auch gut angenommen.

Das „Büro für ungewöhnliche Maßnahmen“ erlangte mit dem Dreierschritt Aktion-Reaktion-Gegenreaktion große Medienresonanz – und wurde alsbald als eine Art Straßen-Fronttheater von den Grünen beschäftigt. Damit drehte sich ihre Stoßrichtung aber um 180 Grad. Spätestens beim darauf folgenden Wahlkampf hatten sie sich aus dem realen „Kiez“ verabschiedet.

Der Kiez ist selbst wesentlich medial: Sogar die „militante gruppe“ (mg) spricht bei ihren strategischen Alternativen von „Formaten“! Ähnlich wie die des „Büros für ungewöhnliche Maßnahmen“ verlief auch die Performance von Christoph Schlingensief, die mit Kreuzberger Trashkunstfilmen begann. Seitdem rüttelt er an den Grenzen der Medien wie an Gitterstäben. Und schreckte dabei nicht mal vor einer Parteigründung zurück. Als „gelungen“ gelten jedoch nur seine Aktionen, die von der Straße aus ansetzten, wie etwa der Asylanten-Container in Wien.

Die Grünen haben sich jetzt für den Wahlkampf ebenfalls einen Container in das Gewimmel der Hauptstadt setzen lassen – von einem renommierten Architekten und ausgerechnet in der Amüsiermeile Oranienburgerstraße, neben dem Touristenkunsthaus „Tacheles“. Zwar interessiert sich dort kein Schwein für ihre Redeschwälle, dafür gewann aber ihre „Wählbar in der Modul-Box“ sofort mediale Aufmerksamkeit: ein Erfolg?

In dem von Kreuzberger Künstlern herausgegebenen „Handbuch der Kommunikationsguerilla“ ist so ein Fall nicht vorgesehen: Hier geht es weniger darum, wie eine wichtigtuerische NGO irgendwie in die Medien kommen kann, sondern darum, da wieder rauszufinden. Man könnte auch sagen: Die Repräsentation ins Leere stoßen zu lassen – ohne dabei den ebenso fragwürdig gewordenen Begriff der Authentizität erneut zu strapazieren. Diese und ähnliche Aktionen bzw. „Projekte“ sind zwar im Umfeld des Kreuzberger „Endart“-Humors entstanden, sie bevorzugen jedoch die Ironie: Erstere lässt sich fallen, bis auf das Schwarze unter dem Fingernagel, Letztere erhebt sich und ist subversiv – verliebt sich dabei jedoch allzu leicht in die Macht.

So lehrt einer der Autoren des Kommunikationsguerilla-Handbuchs jetzt Kunst in Hamburg: „Wir dürfen nicht mehr miteinander reden – wir müssen kommunizieren“, prophezeite Baudrillard bereits 1984. Und Schlingensief kommuniziert nun direkt mit Politikern – in der Zeit: Angela Merkel, die er in einer Talkshow (sic) kennen lernte, findet er als Ärztin am Krankenbett der BRD „supersüß“, wenn ihm ein Wahlplakat der SPD nicht gefällt, ruft er da sofort an und macht einen Verbesserungsvorschlag, Schröder kann er aber „nicht mehr ertragen“ usw. Er übersetzt sich und uns seine Medienwelt und -personnage ins Alltagsleben – seine Fans sprechen von einem „Formtief“, er selbst meint, dass er schon während der Wahlkampfaktion ‚Arbeitslose baden im Wolfgangsee‘ „ohne Mikro nur noch ein Gerippe war“.

Von Kurt Jotter, dem Leiter des „Büros für ungewöhnliche Maßnahmen“, weiß man nur, dass er immer noch „nach ökologischen Erneuerungspotenzialen forscht“ und dass die „medienpolitische Sprecherin“ der Grünen ihn näher kennt. Die beiden Performancekünstler werden beim diesjährigen „TV-Duell“ ersetzt durch Lafontaine und Gysi, die ebenfalls eine ganz neue Partei gegründet haben. Mögliche linke Bewegungen motivieren sie nicht mehr mit Straßen-Provo, sie verlassen sich gleich auf ihre provokative „Medienpräsenz“.

Selbst die taz, die sich anfänglich mit den Kreuzberger Grünen und nicht nur mit diesen quasi identisch gemacht hatte, verhielt sich erst einmal derart ablehnend gegenüber diesen beiden Sozialpausen-Clowns, dass der Aufsichtsrat sich veranlasst sah, trotz Satzungsbedenken da gegenzusteuern. So stellte sich mir das als Hilfshausmeister im Erdgeschoss dar. Genützt hat es wenig: Noch immer streitet man ernsthaft über „Pro und Contra große Koalition“ – und hält diese „Reality-Show“ für wirklichkeitsnäher als die Auftritte der „Linkspartei“.