Off-Kino
: Filme aus dem Archiv – frisch gesichtet

„Toute la mémoire du monde“ heißt ein 1956 entstandener Kurzfilm von Alain Resnais über die Pariser Nationalbibliothek und setzt damit die entscheidende Marke für das Werk des 90-jährigen französischen Regisseurs: Das Erinnern zieht sich wie ein roter Faden durch seine Filme, wurde dabei mit einer wunderbaren Unberechenbarkeit immer wieder unter neuen Aspekten beleuchtet.

Am Anfang kommt bei Resnais das Erinnern vor allem mit einer politisch bewussten Haltung zusammen: „Les statues meurent aussi“ (1953), seine in Zusammenarbeit mit Chris Marker entstandene Dokumentation über afrikanische Kunst in europäischen Museen, wird zu einer Anklage gegen den Kolonialismus und die KZ-Dokumentation „Nuit et brouillard“ (1955), für die Resnais zehn Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg die Farbkamera beharrlich an Krematoriumsöfen und verfallenen Baracken vorbeigleiten lässt, zu einem Diskurs wider das Vergessen.

Der Weltkrieg spielt auch in Resnais’ erstem Spielfilm „Hiroshima, mon amour“ eine Rolle, den er 1959 nach einem Script von Marguerite Duras inszenierte: Hier wird eine für Dreharbeiten in Hiroschima weilende französische Schauspielerin durch ihren japanischen Liebhaber an ihren ersten Geliebten erinnert, einen deutschen Soldaten, den sie während der Okkupationszeit in Nevers kennengelernt hatte. Durch die Montage verdichten sich die Kamerafahrten durch die Straßen von Hiroschima und Nevers schließlich zu einer Einheit von Ort und Zeit.

In „L’année dernière à Marienbad“ gaukelt die Montage das Raum-Zeit-Kontinuums vor, während sie es in Wirklichkeit völlig auseinanderreißt: Ein Mann sucht in dem barocken Schlosshotel eines mondänen Kurortes eine Frau davon zu überzeugen, man habe sich im vergangenen Jahr bereits getroffen – doch sie kann sich scheinbar an nichts erinnern. Aber was von den vermeintlichen Erinnerungen sind nur Imaginationen – seine, ihre oder die von jemand anderem? „Marienbad“ ist mit seinen Fantasien, Träumen und Erinnerungen, die auf verschiedenen Realitäts- und Zeitebenen ineinanderfließen, ein faszinierendes Puzzle mit Teilen, die am Ende kein klares Bild abgeben.

Mit seinem jüngsten Film „Vous n’avez encore rien vu“, der am 1. September im Arsenal-Kino die Retrospektive des Gesamtwerks von Alain Resnais eröffnet, schließt sich der Kreis: Noch einmal geht es – in einer Situation, in der Schauspieler ihre alten Rollen in Jean Anouilhs „Eurydice“ memorieren – um Erinnerungen, um Variationen und Wiederholungen, um ein komplett antirealistisches Spiel mit den Mitteln von Kino und Theater, in dem alles möglich erscheint. Und vor allem: Resnais’ Filme sind keineswegs reine Kopfgeburten, sondern mit ihrem Hang zu Melodrama, Popkultur und schwarzem Humor immer höchst unterhaltsam.

Lars Penning

„Vous n’avez encore rien vu“ (OmU) 1. 9., „Hiroshima mon amour“ (Om engl. U) 2. 9., „Les statues meurent aussi“ (Om engl. U), „Nuit et brouillard“ (Om engl. U) 3. 9., „L’année dernière à Marienbad“ (Om engl. U) 4. 9., Arsenal