: Ein Märchenbau aus Backstein
STADT Für seine schöne Architektur erhält der Bremer Hauptbahnhof die Auszeichnung „Bahnhof des Jahres“. Allerdings wird der Bau wohl bald hinter einem Hochhaus versteckt
■ Bester „Kleinstadtbahnhof“ ist Aschaffenburg. „Egal durch welchen Ausgang der Reisende diesen Bahnhof betritt oder verlässt: Der Bau ist so eingebunden in sein Umfeld, dass die Übergänge fließend sind“, lobte die Jury.
■ Mit dem Wettbewerb „Bahnhof des Jahres“ prämiert die Allianz pro Schiene seit 2004 jährlich den besten Großstadt- und Kleinstadtbahnhof.
AUS BREMEN HENNING BLEYL
Neorenaissance, große Rundbogenfenster – der Bremer Hauptbahnhof macht was her. Nicht weiter erstaunlich, dass ihn die Juroren verschiedener Verkehrsverbände, etwa der „Allianz pro Schiene“, des Verkehrsclubs Deutschland oder des Bahnkundenverbands, zum „Bahnhof des Jahres 2012“ gewählt haben.
In Bremen stehe „ein Märchenbau aus rotem Backstein“, jubeln die Juroren, „ein echter Augenschmaus“. Ein geschäftiger zudem: 120.000 Menschen nutzen ihn jeden Tag. Und eine Seele hat er auch: den kleinen Blumenladen, der sich unter der Treppe der gewaltigen Mittelgalerie versteckt. In diesem unscheinbaren Lädchen sind täglich die Szenen zu beobachten, die den Bahnhof zum hochemotionalen Ort adeln. Hier hinein hechten verzweifelte Männer, die mit einer Rose ihr Beziehungsglück zu retten suchen. Hier arbeitet Ilse F., die für alle Lebenslagen ein aufmunterndes Lächeln und das passende Gewächs parat hat. Wer im Bremer Bahnhof ein bisschen Zeit hat – unter der Treppe findet er Drama und Hoffnung.
Dafür jedoch hat jemand wie Dirk Flege keine Augen. Der „Allianz pro Schiene“-Chef denkt in größeren Maßstäben – und sortiert den Bahnhof mal eben locker in die Weltkulturerbe-Liste ein. Mit dem Unesco-geschützten Bremer Rathaus könne es der Bahnhof vom Ende des 19. Jahrhunderts „durchaus aufnehmen“, urteilt Flege.
Das Wandrelief über den Anzeigetafeln sorge für „das nötige Lokalkolorit“, in dem es den Weg des Tabaks von Südamerika bis in die Hansestadt zeigt“. Wobei die Firma Brinkmann, deren Name das Bild dominiert, ihren Rohstoff gern auch aus dem Osten bezog: Geschäftsführer Ritter wurde 1933 Wirtschaftssenator und organisierte reichsweit die „Fachgruppe Tabakindustrie“ – den Einsatz zehntausender Zwangsarbeiter auf den Plantagen der Ukraine und der Krim.
Aber, allen kleinlichen Anmerkungen zum Trotz: Die Bremer Bahnhofs-Prämierung kommt zur rechten Zeit. Denn bald schon ist es vorbei mit den von der Jury so hoch gelobten Sichtachsen und Wegebeziehungen: Auf dem Vorplatz wird ein gedoppeltes Bürohochhaus gebaut, das dem „Märchenbau aus rotem Backstein“ nur noch durch eine schmale Gasse sichtbar macht.
Während die Jury quer durch die Republik Bahnhöfe besichtigte, wurden gleichzeitig Bahnkunden nach ihrer Meinung gefragt. Platz eins belegte dabei der Kopfbahnhof von Leipzig, der im vergangenen Jahr den Titel gewonnen hatte. Auf Platz zwei wählten die Befragten den Bahnhof von Stuttgart. Bei diesem Votum für eine lange nicht gepflegte Station, eigentlich eine Großbaustelle, vermuteten die Juroren allerdings politische Motive.