: „Die Empörung ist berechtigt, aber …“
Gibt es keine ethischen Grenzen der Kunst? Ein Gespräch mit dem Ästhetikprofessor Gerhard Seel zu Xiao Yus umstrittenem Möwen-Fötus-Objekt
Eine Arbeit des chinesischen Künstlers Xiao Yu sorgt in der Berner Ausstellung „Mahjong“ für Aufregung; sie kombiniert einen Vogelkörper mit dem Kopf eines menschlichen Fötus. Gerhard Seel ist Generalsekretär der Internationalen Akademie für Philosophie der Kunst.
taz: Herr Seel, einen Zwitter aus dem Körper einer Möwe und dem Kopf eines menschlichen Fötus ausstellen – darf man das?
Gerhard Seel: So einfach, wie die Frage daherkommt, ist sie nicht zu beantworten. Es kommt auf die Umstände an, unter welchen das geschieht. Es könnte sein, dass der Künstler zeigen will, dass die Menschen mit dem Rest des Lebendigen in einem Entwicklungszusammenhang stehen, oder dass er davor warnen will, Monster zu produzieren.
Oder er will nur provozieren.
Das fände ich allerdings künstlerisch uninteressant. Als in den 60er- und 70er-Jahren in Wien Hermann Nitsch …
… der österreichische Aktionskünstler …
… Tierkörper aufgehängt und sich mit Tierblut bespritzt hat, und das alles öffentlich, das war eine Weise, zu provozieren, und eine Art, Kunst zu machen. Das war was Neues, man musste es wohl machen. Aber heute finde ich das ästhetisch nicht schrecklich aufregend.
Immerhin löst das Möwe-Fötus-Objekt eine Debatte aus.
Kunst hat nicht die Aufgabe, Debatten auszulösen. Es gibt und gab immer Künstler, die ihre Arbeit kulturkritisch oder sozialkritisch verstanden. Aber unter dem Schutz des Grundrechts – der Freiheit der Kunst – bleibt ihnen das unbenommen.
Gibt es keine ethischen Grenzen der Kunst?
Einerseits gilt das Metaprinzip der Toleranz, wonach man die unterschiedlichen Werte verschiedener Kulturen respektieren soll. Aber gerade weil dies universal gilt, muss man andererseits auch die kulturell abhängigen Werte einer bestimmten Gesellschaft, also auch der unsrigen, schützen.
Finden Sie es richtig, dass man die Wertvorstellungen des empörten Publikums in Bern respektiert und das Objekt aus der Ausstellung nimmt?
Die Berner sind ja sicher offen für Debatten. Aber ich habe Verständnis für die Empörung, wenn die Grenzen des ethischen Empfindens überschritten worden sind. Das ethische Empfinden selbst verdient Schutz. Auch muss man bedenken, dass das ethische Empfinden keine feste Größe ist, sondern sich entwickelt. Wir akzeptieren etwa, dass der tote menschliche Körper zur Rettung menschlichen Lebens als Organlieferer gebraucht wird. Dies wäre vor hundert Jahren noch ein Tabu gewesen.
Aber?
Aber man muss die Relationen sehen: Wenn bestimmte Leute sich jetzt über ein solches Objekt aufregen, sich aber nicht aufregen, wenn in Afrika tausende von Kindern täglich einfach verhungern, dann finde ich, dann muss man gewisse bürgerliche Empörungen wieder zurechtrücken.
Diese Zwiespältigkeit der Wahrnehmung begleitet uns täglich.
Natürlich. Namentlich vor dem Hintergrund unserer Tradition der Ehrfurcht vor dem menschlichen Körper bin ich auch der Meinung, man sollte so wie dieser Künstler nicht mit dem menschlichen Körper, auch nicht mit dem eines Embryos, umgehen. Aber wie gesagt: Ich würde den vorliegenden Sachverhalt nicht dramatisieren. INTERVIEW: FREDY GASSER
Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Berner Zeitung