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Archiv-Artikel

Wie möchten Sie in fünf Jahren in Syrien leben?

„Kein Zweifel, sobald Assad gestürzt ist, wird es ein riesiges Fest im Land geben. Doch wir sollten nüchtern bleiben. Aristoteles hat mal gesagt: Tyrannei schafft schnell neue Tyrannen. Wir erwarten nicht, dass sich Syrien nach dem Sturz des Regimes in ein Paradies verwandelt; in der Geschichte gibt es genug Beispiele für das Gegenteil. Wir wissen, dass auf uns noch viele politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Probleme zukommen werden. Doch die syrische Zivilbevölkerung hat in den letzten Monaten gezeigt, dass sie großes Potenzial besitzt, diesen Herausforderungen Herr zu werden. Sie hat gezeigt, dass sie den Weg zu einem freiheitlich demokratischen Rechtsstaat unbedingt bis zum Ende zu gehen will. In den 17 Monaten der Revolution haben wir ein neues Bewusstsein von Widerstand entwickelt. Wir sind jetzt in der Lage, jede Art von Tyrannei zu besiegen!“

Kurdischer Aktivist aus Nordsyrien vom kurdischen Netzwerk „Sawa“ (“Gemeinsam“)

„Keine der beiden Seiten wird der Gewalt nachgeben. Der einzige Weg, den Krieg zu beenden, sind deshalb offene Friedensverhandlungen, ohne jede Vorbedingungen, von beiden Seiten. Die Regierung und die Opposition müssen sich an einen Tisch setzen und demokratische Wahlen vorbereiten. Jeder soll dabei antreten dürfen – auch die Baath-Partei und auch Baschar al-Assad. Wer diese freien Wahlen gewinnt, der soll künftig das Land regieren.“

Chawkat Takla ist seit Dezember 2010 Honorarkonsul der Republik Syrien für Bremen und Niedersachsen

„Humanitär gesehen ist das syrische Drama eine Katastrophe sondergleichen, keine Frage. Das Töten muss sofort aufhören, und das alte Kulturland ‚Balad a-Scham, der fruchtbare Halbmond‘“ soll wieder die museumsartige Wiege der Kulturen von einst werden. Andererseits: Ich will, dass die Syrer jetzt genauso leiden, wie wir Libanesen im Krieg unter ihnen gelitten haben. Sie haben Kinder vor den Augen ihrer Mütter getötet odervergewaltigt. Wenn ich ehrlich bin: Sollen sich die verdammten Araber doch alle umbringen! Wir machen Geld mit Waffen und auch an dem Wiederaufbau werden wir später verdienen. Nach jedem Krieg boomt die Baubranche. Wir sehen also in eine prosperierende Zukunft. Und wenn es uns hier zu heiß wird, im August ist es besonders schwül, dann segeln wir nach Zypern oder Griechenland oder besuchen unsere Freunde in Kroatien.“

Antoine und Nabil, christliche Libanesen, sind Mitte dreißig und wohlhabend. Sie leben im Libanon, besitzen Motorräder und Segelyachten und nehmen gerne die Dienste von russischen Prostituierten in Anspruch. Beide arbeiten im „Management“.

„Gestern hatten wir einen Traum, den Traum von einem freien, demokratischen und säkularen Staat. Jetzt ist er zu einem Albtraum geworden. Heute rieche ich das Blut, wenn ich durch Damaskus laufe. Ich sehe schwarze Wolken über den Häusern der Stadt, es ist Krieg! Wer ist dafür verantwortlich? Die Antwort lautet alle: Das Regime und die FSA sind nur zwei Seiten derselben Medaille. Die internationale Gemeinschaft liefert sich Machtkämpfe auf syrischem Boden. Aber eines Tages wird der friedliche Protest wieder lauter sein als das Getöse des Krieges. Aber noch nicht in fünf Jahren. Das ist zu früh, nach allem, was passiert ist.“

Christin, 26 Jahre, Christin. Sie arbeitet als Pharmazeutin und lebt in Damaskus

„Syrien in fünf Jahren wird definitiv anders aussehen als heute. Zumindest sind wir alle sicher, dass das Assad-Regime die nächsten fünf Jahre nicht überstehen wird. Die Anzeichen dafür sind eindeutig. Die Menschen hier haben den Glauben an eine bessere Zukunft nicht aufgegeben. Auch wenn in den Medien momentan von dem angeblich schleichenden Einfluss radikaler Gruppen in Syrien die Rede ist, stellen wir hier jeden Tag fest, dass der Motor dieses Aufstandes nach wie vor die Leute sind, die Monate lang gegen das Regime friedlich demonstriert haben. Die Energie und Kraft, die diese Leute haben, wird ausreichen, um erfolgreich ein neues politisches System in Syrien aufzubauen.“

Aktivst aus Erbin, einem Vorort von Damaskus, der in den letzten Monaten immer wieder vom syrischen Militär bombardiert worden ist.

„Für mich stellen sich zwei Fragen auf die es eine Antwort gibt. Ich glaube, Syrien wird das Gedenken an die syrische Revolution in Würde feiern und dieses Ereignis wird davon begleitet sein, dass dann die zweite Runde des Präsidentschaftswahlen stattgefunden haben wird, gewählt von seinem Volk nach dem Sturz des Asad-Regimes. Zur gleichen Zeit sehe ich, dass alle Staaten der Welt dem syrischen Regime drohen werden unter dem Vorwand der Existenz von Al-Kaida-Zellen. Auch die Rolle Israels wird sich verändern. Ich kann mir vorstellen, dass sich Israel dann darauf vorbereitet, arabischen Boden zu erobern. Das soll nicht heißen, dass ich mir wünsche, dass die Staaten dieser Welt Syrien bedrohen, aber diese Staaten werden alle arabischen Regierungen bedrohen, dessen Staatsoberhaupt durch das Volk auf eine demokratische Weise gewählt wurde und das Volk demnach repräsentiert. Das wird ddie Gefahr für uns sein.“

Palästinensische Aktivistin, 33, aus Camp Yarmuk (dem Palästinenser Viertel in Damaskus) (33) von der Initiative „Nasna-unsere Leute“

„Ich trinke und esse zu viel. Ständig streite ich mit meinem Freund, er ist auch Syrer, wir haben viel Stress. Wenn ich meine Familie in Daraa mal nicht erreiche, am Freitag oder Samstag, wenn der Präsident das Telefonnetz kappt, dann prügeln wir uns wegen der Spannung, die zwischen uns liegt. Dann ist wieder Schluss, nachts treffen wir uns mit Freunden in der Bar ums Eck, danach gibt es heißen Sex. So können wir trotz der Geschehnisse in unserer Heimat überleben. Mein Freund zum Beispiel liest nie Nachrichten, ich ständig. Er malt seine Bilder, und ich bibbere mit meiner Familie. Klar, dass wir ein anderes Energielevel haben. Meine Freundin nimmt mich mit zum Yoga, das beruhigt. Danach essen wir meist Sushi, aber keinen Thunfisch, da flippt meine Freundin immer aus. Mir ist das egal. Alle durften immer Thunfisch-Sushi essen, nur die Syrer, die hatten immer nur Brot und Hummus. Ich will jetzt kein Brot mehr, ich will jetzt meinen Thunfisch und mein Haschisch und mein Kokain, weil morgen eh alles vorbei ist. Ob ich die kommenden Dekaden den Krieg in meiner Heimat verfolgen will? Da feiere ich mich lieber wie die Beirutis zu Tode. Prost!“

Rana, 32, syrische Exaktivistin, lebt jetzt als Partygirl in Beirut

„Ich heiße Muhammad Dumani, studiere Medizin an der Furat-Universität in Syrien (Deir al-Sur) im zwölften Semester. Viele unserer Kommilitonen sind in Haft, einige sind tot. Wir haben uns deshalb mit vielen Studenten zusammengetan und beim Bildungsministerium ein Verschieben des Staatsexamens beantragt. Unser Antrag wurde abgelehnt. Das Regime will zeigen: Alles in Ordnung in Syrien! Als wäre nichts passiert! Aber nichts ist in Ordnung. Ich weiß nicht, wie die Zukunft aussieht – ich weiß nicht einmal, was in den nächsten Wochen passiert. Ich würde gerne wieder studieren, aber wie kann ich studieren, wenn um mich herum das Regime mordet? Die Zukunft Syriens und die seiner Bevölkerung wird zunehmend durch die Passivität der internationalen Gemeinschaft und die maßlose Brutalität des Assad-Regime ins negative Licht geschoben!!

Trotz der Brutalität des Assad-Regimes, und trotzdem die Welt uns den Rücken gezeigt hat, wird das syrische Volk, das einen großen Preis für seine Freiheit bezahlt, nicht aufgeben, ehe es sein Ziel erreicht hat! Es hat Tag für Tag bewiesen, dass sein Wille stärker ist als das Regime. Syrien wird ein Beispiel (im positiven Sinne) nicht nur für die Region, sondern auch für die ganze Welt!“

Muhammad Dumani, Aktivist aus Deir al-Sur

Die Statements wurden von Jannis Hagmann, Jaz, Elias Perabo und Christian Jakob zusammengestellt