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Für ein neues Graswurzelgefühl

Vier Texte von AutorInnen, die am Dienstag bei der Diskussion „Poetik der Solidarität“ im Brecht-Haus sprechen

Blick vom Alexanderplatz auf die #unteilbar-Demo am 18. Oktober 2018 Foto: Sebastian Wells

Solidarische Poetiken?

Ein schlechter Autor, wer seine Figuren verrät; was aber, wenn die Figuren nur Nebensache sind, wenn der gesellschaftliche Zusammenhang mehr Entsolidarisierungsprozesse hervorbringt als anderes, wenn Häme, Hasspredigten und Spaltung regieren? Was kann da noch solidarisch werden? Die Sprache selbst? Das würde den ohnehin schon arg entleerten Begriff des Solidarischen ad absurdum führen, aber vielleicht zeigt Sprache in ihrem Emotionalisierungs-, Affinitäts- und Ansteckungspotenzial, dass es neben der Nicht-Eigentümergesellschaft noch etwas anderes gibt als Soll und Nichthaben.

Solidarität, so ist der nächste beliebte Gemeinplatz, kann nur der verspüren, der sich identifiziert, der sich in jemanden hin­einversetzt. Ist sie aber deswegen gleich etwas Undistanziertes? Kleben wir dann aneinander, oder ist es vielmehr nur die Berührung an einem bestimmten Punkt, vielleicht sogar ein abstraktes Verhältnis, mal aus marxistischer Sicht argumentiert? Was wäre das für eines? Das Humane? Oder kann man sich solidarisch auch mit Pflanzen und Tieren erklären? Im Zeitalter der Narrative ist das Erstellen von Narrationen Teil einer Herrschaftsdynamik – wie können wir sichergehen, mit unseren Solidaritätserzählungen nicht den falschen Kräften zuzuarbeiten? Welche wären diese? Fragen wie die nach der Autorschaft und ob diese als reine Konkurrenzsituation zu fassen ist oder ob wir literarisch Schreibende uns nicht vielmehr nötig haben, schließen sich dar­an direkt an.

Kathrin Röggla

Kollektive Eigenliebe

Er glaube an Solidarität, nicht an Wohltätigkeit, schrieb der uruguayische Journalist und Schriftsteller Eduardo Galeano einmal, denn sie käme ohne Paternalismus aus. Sie beruhe auf der Einsicht, dass Schwache auf wechselseitige Hilfe angewiesen sind, wenn sie sich gemeinsam gegen die Starken Geltung verschaffen wollen. Wer solidarisch ist, verhält sich (mit-)menschlich, aber Solidarität kommt ohne den Gegensatz von Egoismus und Altruismus aus. Brecht schreibt: „Gegen die Eigenliebe kann man nichts haben, wenn sie sich nicht gegen andere richtet.“ Wer solidarisch handelt, tut dies also im Eigeninteresse, das zugleich das Gemeininteresse ist oder werden könnte. Zum Beispiel: Wer humanere Arbeitsbedingungen anstrebt, handelt zugleich im Interesse aller anderen, die auch lohnabhängig sind. Solidarität wäre dann die Überwindung des Egoismus durch Strukturen der kollektiven Eigenliebe.

Solidarität lässt sich auf allen Ebenen leben: von den zwischenmenschlichen Beziehungen am Arbeitsplatz und im Alltag bis zur Errichtung einer solidarischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Damit ist sie literaturfähig. Die bestehende Gesellschaft vereinzelt die Menschen, setzt sie in Konkurrenz zueinander. Solidarität muss gegen diesen „Vereinzelungseffekt“ erkämpft werden. In diesem Prozess der Nichtentmenschlichung und Selbstvermenschlichung entstehen Dramen des Alltags. Eine realistische Literatur kann diese Dramen ästhetisch verdichten und aus ihnen eine Poesie der Zukunft schöpfen, in der der Mensch dem Menschen kein Wolf mehr ist. Ingar Solty

Andere Sprachregeln gelten

Das Solidarische trägt das „Solide“, also das Verlässliche, in sich. Im Grunde aber beschreibt es etwas sehr Fragiles. Etwas, das nie „ist“, sondern immer wieder neu auf gemeinsame Ziele hin gelebt und ausgehandelt werden muss.

Eine Frage ist gegenwärtig: Wie lässt sich Klassenpolitik intersektional reformieren? Wie bekommt man den Herrschaftsknoten aus race, class & gender in den Blick?

Was der Artikulation gemeinsamer Ziele im Weg steht, ist die Sprache selbst. „Die Solidarität als solche hat keine Sprache, in der sie vernehmbar artikuliert werden kann.“ (Hito Steyerl).

Ein Grund hierfür liegt meiner Ansicht nach in der Konvention der „freien Rede“ (dem Prinzip Frage-Antwort / Rede-Gegenrede). Ich habe lange gebraucht, die „freie Rede“ als bildungsbürgerliche, patriarchale weiße Konvention zu enttarnen. Als etwas, das ungemein voraussetzungsreich ist. Als exklusiv. Denn: Wer hat überhaupt den Mut (und die Möglichkeit), sich einzubringen? Wo und wie debattieren wir die Klassenfrage miteinander? Ich glaube, dass Literatur Räume stiften kann, an denen andere Sprachregeln gelten. Poetische und performative Regeln, die all diejenigen unter uns ermächtigen, die das Gebot der „freien Rede“ – aus welchen Gründen auch immer – eher zum Verstummen als zum Sprechen bringt.

Eine solche Sprache kann man nicht von oben verordnen. Sie erwächst aus einem Graswurzelgefühl. Dem buchstäblichen Dazwischen. Man muss sie gemeinsam erlernen wollen. Daniela Dröscher

Widerständiges Potenzial

Wenn die Zugriffe marktorientierter Kräfte auf das literarische Schaffen zunehmen, wenn der öffentliche Raum umkämpfter wird, wenn auch die alt bewährten Trennungsmarken wie Geschlecht, Alter, Herkunft wieder bereitwillig eingesetzt werden, dann entsteht Platzangst. Die Fliehkräfte steigen, aber auch die Rufe, sich zu solidarisieren.

Große ­Umstrukturierungen in den Zeitungen, kürzere, schnellere literarische Formate in den Rundfunkanstalten sowie die kontinuierliche Demontage von guten Theatertexten im Theater mögen ein Gefühl von Schwäche erzeugt haben für uns Schreibende. Lange waren auch die politischen Umbrüche nicht so radikal wie jetzt. Vieles, das als durchgesetzt galt, wird von Rechten in Abrede gestellt – wie die Beteiligung möglichst aller gesellschaftlichen Gruppen in der Kultur. Andererseits mussten sich Frauen, und nicht nur sie, den öffentlichen Raum von jeher erkämpfen. Und auch die Zeit hilfloser Reaktionen angesichts des Aufstiegs der Rechtspopulisten ist vorbei, als es zuweilen noch hieß, wir – oder die Literatur – seien nur eine „Nische“. Der ­solidarische Aufruf wäre schwach, wenn er nur uns AutorInnen unterein­ander gälte. Aber er ist ein guter Anlass zur Selbstvergewisserung bezüglich der Kraft, die in der Sprache liegt. Und der gesellschaftlichen Bedeutung von Literatur und Theater als ­widerständiges Potenzial. Der Aufruf zur Solidarität vereint uns mit einer fragenden und hinterfragenden Zivilgesellschaft, die diese Kraft von uns fordert und fordern soll.

Maxi Obexer

Obige Texte drucken wir in Zusammenarbeit mit dem Literaturforum im Brecht-Haus. Unter dem Titel „Poetik der Solidarität!“ führt es am Dienstag ab 19 Uhr die Reihe „Richtige Literatur im Falschen“ fort. Mit einem Vortrag von Patrick Eiden-Offe und Statements der hier vertretenen Autor*innen. Eintritt: 5/3 Euro

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