piwik no script img

Archiv-Artikel

Es ist ein bisschen wie Krieg

Autisten sind Menschen, die in einer anderen Welt leben. Sie sind kompliziert zu verstehen, gefangen in einer Wahrnehmung und einem Verhalten, das in dieser schnellen Zeit, in der jeder wie ein Rädchen funktionieren soll, keinen Platz hat. In Malschenberg bei Heidelberg hat Sabine Melugin eine Tagesbetreuung eingerichtet, die Menschen mit frühkindlichem Autismus, mit sogenanntem herausfordernden Verhalten, aufnimmt

von Anna Hunger (Text) und Martin Storz (Fotos)

s ist ein bisschen wie Krieg“, sagt Sabine Melugin. Krieg gegen den Rest der Welt.

2009 hat sie Selma gegründet. Eine Tageseinrichtung in einem kleinen Ort bei Heidelberg, in der sie Autisten mit sogenanntem „herausfordernden Verhalten“ aufnimmt, viele Erwachsene, die sonst keiner haben möchte. Sabine Melugin ermöglicht Familien ein geregeltes Arbeitsleben, ein wenig Freiraum und Ruhe, und bietet ihren Klienten Beschäftigung: Arbeiten – mit Holz, Ton, im Garten, in der Küche. Bis zu sieben Autisten werden bei Selma betreut, damit die Gruppe nicht zu groß wird und berechenbar bleibt für alle und auf fast jeden Autisten ein Betreuer kommt. Selma hat von morgens bis abends geöffnet, von Montag bis Freitag. Sabine Melugin lacht eigentlich sehr gern und viel. Aber in manchen Situationen merkt man ihr die Anstrengung an: „Es kostet viel Kraft“, sagt sie dann.

Kraft in einer Nische des Lebens, die schwieriger nicht sein könnte.

Eltern sind schwierig, weil sie sich zu viele Sorgen machen. Weil sie aus Angst und Hilflosigkeit beschuldigen, wo es nichts zu beschuldigen gibt. Weil kaum eine Mutter möchte, das ihr Kind in der Psychiatrie lebt, aber sie selbst die Betreuung nicht leisten kann und kaum einer eine anbietet, die sie zufriedenstellt.

Betreuer sind schwierig, weil sie sich oft zu wenig kümmern, weil sie wenig Zeit haben, weil sie überfordert sind mit diesen Menschen.

Behindertenwerkstätten sind schwierig, weil sie einen strukturierten Tag bieten wollen, Arbeitskräfte brauchen, aber Autisten manchmal Monate brauchen, um kleinste Handlungsabläufe zu lernen, weil Pausen sie oft aus der Bahn werfen, weil die Arbeit in betreuten Werkstätten sie gleichzeitig oft unterfordert.

Kein Hollywood, kein Happy End

Ämter sind schwierig, weil es so viele Zuständigkeiten gibt, das Jugendamt, das Arbeitsamt, das Sozialamt, weil sie alle, wie immer bei Zuschüssen und Unterstützungsleistungen, prüfen und abfragen, Formulare ausfüllen lassen und Gutachten fordern. Und weil sie wahnsinnig viel Zeit und Energie kosten und dann menschliche Andersartigkeiten in Raster pressen, in Skalen einteilen und so die Menge an menschlicher Würde messen, als sei sie eine neu anzulegende Straße. Manchmal ist es kaum mehr als ein Feldweg.

Natürlich sind auch die Patienten kompliziert. Ganz anders als im Film, kein Hollywood, kein Happy End.

Da gibt es Daniel. Manchmal steht er da und dreht die Hand vor seinen Augen, als sei sie ein seltenes Objekt, das man besonders intensiv anschauen muss. Seine Mutter holt ihn immer um Punkt halb fünf Uhr von Selma ab, und wenn sie wie an diesem Tag nur eine Minute länger sitzenbleiben möchte, krallt er seine Fingernägel in ihren Arm, bis aus weißen Halbmond-Abdrücken auf ihrer Haut dunkelrote geworden sind. Er zerrt an der kleinen Frau, als wolle er sie zerreißen, schreit, windet sich, schlägt sich gegen die Ohren, gegen den Hals, körperlicher Schmerz gegen den Verstoß gegen die Routine, die fünfminütige Verspätung. Bis die Mutter aufgibt und sich mitreißen lässt.

Dann gibt es Tobias, einen ruhigen Kerl, der immer ein Brett mit Buchstaben mit sich trägt, mit dem er zeigt, was er nicht sagen kann, oder in das er reinbeißt, falls ihm alles zu viel wird. Einmal, sagt seine Mutter, habe er beim Abendessen mit Messer und Gabel die Frage aufgeschrieben: „Warum brauchen wir Menschen zum Essen eine Verlängerung unserer Hände?“

Oder Lea, die von drei Schulen verwiesen wurde, weil sie durch die Klassenzimmer fegte wie ein Berserker, und die nun keine Schule mehr nehmen will. Sie ist dreizehn Jahre alt. Lea wirft Stühle. Sie hat bei Selma einen eigenen, weil in Malschenberg Ticks und stereotype Handlungen, die so oft vorkommen bei Autisten, in gewissem Maß toleriert werden. Der Stuhl ist grün, ihm fehlt ein Bein, und wenn sie mit ihm alleine ist, stellt sie ihn auf eines von dreien und wippt mit dem Plastikmöbelstück, als wolle sie testen, ob er vielleicht doch auf einem Bein stehen kann und keine vier braucht. Manchmal rastet sie aus, schreit, rennt, und wenn sie sich wieder im Griff hat, sitzt sie auf einem Sessel im Wohnzimmer von Selma, die Unterarme auf den Polsterlehnen, angespannt wie ein Ringer nach dem Kampf, und starrt geradeaus auf die Wand. Wenn sie sich beruhigt hat, streicht sie sich über die Wange. Das heißt: „Lea wieder lieb.“

Ein bis zwei Kinder von tausend Geburten sind von frühkindlichem Autismus betroffen, sechs von tausend haben eine autistische Störung. Im Gegensatz zum Asperger-Syndrom, bei dem Betroffene zwar oft psychomotorisch und sozial gehandicapt, aber nicht in ihrer sprachlichen und kognitiven Entwicklung gehemmt sind, ist der frühkindliche oder Kanner-Autismus eine tiefgreifende Entwicklungsstörung. Viele Betroffene sprechen nicht, haben Phobien, Angstzustände, mit Veränderungen können sie nur schwer umgehen, oft sind sie aggressiv gegen sich selbst und gegen andere.

Wo finden sie einen Platz in unserer Gesellschaft? Sie sind diejenigen, die aus der Inklusionsformel der EU herausfallen. Sie können nicht inkludiert werden, wie denn auch, wenn keiner weiß, wie sie in der nächsten Sekunde reagieren, wann sie das nächste Mal jemanden verletzen. Aber immer wieder stellt sich auch die Frage, ob man sie nicht auf die Gesellschaft loslassen kann oder die Gesellschaft nicht auf diese sensiblen Menschen.

Sabine Melugin versucht, einen Weg zu finden. Sie hat eine Gruppe aufgebaut für Menschen, von denen man sagt, sie könnten keine Beziehungen aufbauen. „Das stimmt nicht“, sagt sie, „diese Beziehungen sind nur anders.“ Feiner, weniger von Äußerlichkeit geprägt, eher innerlich, schwer erklärbar. Bei Wanderungen warten sie aufeinander, kürzlich hat einer dem anderen vorgemacht, wie man eine Tomate schneidet. Kleinigkeiten, über Monate und Jahre gefördert.

Selma ist eines von zwei Projekten in Baden-Württemberg, in denen Autisten mit sogenanntem „herausfordernden Verhalten“ tatsächlich das bekommen, was man Eins-zu-eins-Betreuung nennt. Ein Projekt mit viel Herz, Verstand und Verständnis für einen besonderen Schlag Menschen. Irgendwann, sagt Sabine Melugin, soll es eine Wohneinrichtung werden. Wenn sie ihr vorher nicht den Geldhahn zudrehen. Denn auch darum geht es immer. Ums Geld. Die nächste Verhandlung steht schon an, dann wird sich entscheiden, ob es Selma weiter geben wird.

Sabine Melugin hat selbst einen autistischen Sohn. Daniel. Nach der Schule wollte sie ihn in einer Werkstatt unterbringen, damit er etwas zu tun hat. Aber sie fand keine. Entweder die Einrichtungen wollten keine Autisten oder sie konnten keine aufnehmen, oder sie waren ein paar Kilometer weiter weg und das Sozialamt übernahm die Kosten nicht, oder sie forderten einen Betreuer, den Sabine Melugin nicht bekam, weil ein Psychologe ihrem Sohn attestiert hatte, er sei kognitiv ja ganz fit.

Dutzende Male stand sie beim Sozialamt, bis ihr einer der Sachbearbeiter sagte: „Bringen Sie ihn endlich in ein Heim, damit das hier ein Ende hat.“ Es gibt tolle Heime für Menschen mit Behinderung in Deutschland, mit guter Betreuung, liebvoller Pflege und Beschäftigung. Aber es gibt nicht so viele, wie es bräuchte, um diese Form des Autismus zu betreuen.

Manche Eltern lassen ihre Kinder in einer solchen Großeinrichtung betreuen. Ein Elternpaar erzählt über ihren Sohn: mit acht in einem Heim, dann in ein anderes, Psychiatrie, Heim, Psychiatrie, Heim, Psychiatrie, und so geht es weiter, bis der Sohn fast 50 ist. In der Psychiatrie, sagen sie, sitzt er dann, und sein Speichel zieht Fäden aus den stummen Mundwinkeln. Er spielt Klavier, er puzzelt gerne, er liebt Musik. Weil er Ärger gehabt habe mit einem Mitbewohner, hat er sich selbst eineinhalb Jahre mit einem Band ans Bett gefesselt, bis seine Muskeln verkümmerten und seine Seele noch verwelkter war als zuvor.

Die Eltern zeigen Bilder, man sieht darauf einen Mann, zusammengekauert wie ein Fötus, mit dicken Bändern um den Bauch und die Füße. Oft trage er Boxhandschuhe, damit er die Haare nicht greifen kann, an denen er sonst ziehe. Er binde sich die Hände zusammen, weil ihm das Halt gibt, erzählen sie, er bekomme sein Essen in der Einrichtung nur durch eine Klappe in der Tür. Die Zuständigen schreiben, er wolle das so. Die Eltern sagen, er käme nie raus, die Betreuer schreiben, er wolle doch nicht und man könne doch keinen zwingen. Die Eltern sagen, man drohe dem Sohn, er müsse wieder in die Psychiatrie. Experten sagen, dass es manchmal ganz gut ist dort mit all den Medikamenten, weil sie ein wenig Halt geben und Ruhe in einer verschobenen Welt.

Wer hat recht?

Es frisst die Seele und das Leben

Die Eltern sind voller Liebe für diesen Sohn, im Haus hängen Bilder von ihm, er bestimmt ihr Leben und Denken, und doch sind sie im tiefsten Inneren irgendwie froh, ihn nicht die ganze Zeit zu Hause haben zu müssen. Es ist so anstrengend und frisst die Seele und das Leben.

Eine andere Mutter erzählt, wie ihr Sohn in einer Einrichtung von einem Pfleger angezeigt wurde, wegen Körperverletzung und im Anschluss monatelang in der Psychiatrie saß. So etwas ist sehr selten, aber es kommt vor.

Jeden Tag telefonieren diese Eltern, jeden Tag sind sie voller Sorge um ihre Kinder. Werden sie gut behandelt? Stimmt es, dass einer alleine auf der Station war, nur mit einem Zettel, auf dem die Telefonnummer steht, die er im Notfall anrufen sollte? Stimmt es, dass er kaum hinauskommt in den Anstaltsgarten, weil ihn zwei Pfleger nicht bändigen könnten, wenn er austickt? Stimmt es, dass der andere sich seine Kleidung immer aus- und dann falsch herum anzieht, oder liegt es an den Pflegern, wenn ihm die Hose mal wieder unter dem Po hängt?

Und wie viel Vorwürfe kann man dem Pflegepersonal machen, das unterbesetzt, jeden Tag mit einem Dutzend solcher Fälle zu tun hat? Den ganzen Tag Schreie, Ticks, immer in Hab-Acht-Stellung, ob wieder einer ausrastet, Einrichtung zerstört, Menschen verletzt? Aber haben die Betreuer den Umgang damit nicht gelernt?

Gerichte definieren, dass Patienten in bestimmten Situationen fixiert werden dürfen. Aber wer bestimmt, wann eine solche Situation eintritt? Und wie lange sie eintritt? Und ist es nicht einfacher und auch verständlich, einen aufgebrachten Patienten festzubinden, um sich um die anderen zu kümmern, als sich so lange mit diesem einen zu beschäftigen, bis seine Aggression vorüber ist? Was löst sie aus? Das alles braucht Zeit, die viele Pfleger nicht haben, weil es häufig zu wenige sind.

In einem Heft, herausgegeben vom Regionalverband Autismus Stuttgart, schreibt ein Autist über sich: „Autismus gehört zu den schlimmen Behinderungen, die einen Menschen zerstören können, so sollensschwächend, so seelenzerkämpfend, so seelenzerberstend kann Autismus sein.“ Sie nehmen Geräusche überdeutlich wahr, sehen verzerrte Gesichter, sich verschiebende Münder und Augen, manches zerfällt im Sehen, Bewegungen können sie nicht richtig folgen, manches ist riesengroß, manches klein, anderes weit weg oder zu nah. Diese Menschen fühlen sich leicht und manchmal sehr schwer, manchmal auch gar nicht, deshalb die Schläge, die Selbstverletzung, deshalb das Festbinden, die Boxhandschuhe. Und alles verfestigt in einer überbordenden, ständig kippenden Welt.

Und noch eine Innensicht: „Wenn ich mich nicht spüre, fehlen meine Begrenzungen und die Integration meiner Teile. Ich bin dann kein ganzer Mensch. Wenn mein Körper keine Rückmeldung erhält, fühle ich mich, als falle ich auseinander. Das ist ein Zustand, den ich kaum aushalten kann.“ Oder: „Man sieht alles auf einmal, alles ist so verworren. Man braucht so lange, um zu sortieren und um sich zu erinnern, was was ist.“ Überforderung, Reizüberflutung, immer, den ganzen Tag.

Sabine Melugin erzählt von einer Reise. Sie konnte die Sprache nicht, gestikulierte, schaffte es nicht, sich verständlich zu machen. „So muss es sein“, sagt sie. Ausgeliefert.

Sabine Melugins Sohn lebt ebenfalls in ihrer Einrichtung. Er trinkt alle Becher leer, die herumstehen, und hat eine seltsame Choreografie mit den Fingern entwickelt, ein Drehen, Schnippen und Reiben. Er kann Französisch, fließend, schriftlich, er kann Englisch, aber wenn er einen Kopfsalat schneiden soll, muss man ihm helfen.

Er schien ein normales Kind, sagt Sabine Melugin. Aber als seine Mutter das dritte Kind geboren hatte und das Baby schrie und schrie und nicht mehr aufhören wollte, holte der fünfjährige Daniel eine Eisenstange aus dem Keller und verdrosch seinen Bruder. Sabine Melugin schleppte ihn zum Psychiater. Danach war sie schockiert. Mein Sohn ein Autist?

„Sie warten, bis sie dich abspeisen können“

Damals lebte sie in den USA. Immer in den Sommerferien kam die Familie aus Deutschland zu Besuch. Und immer wenn der Cousin da war, konnte Daniel alleine auf’s Klo. War er weg, war auch seine Erinnerung an diese Handlung verschwunden. „Ich habe beschlossen, wir gehen zurück“, sagt sie. In Deutschland begann für Sabine Melugin die Irrfahrt. Zuerst wurde die US-Diagnose nicht anerkannt. Sie brauchte noch ein Gutachten, damals war Daniel sieben und Sabine Melugin wurde gesagt, er werde später auf jeden Fall in einem Heim leben, an den Gedanken könne sie sich schon mal gewöhnen. Er bekam Ritalin, saß stumm am Tisch, bis sie das Medikament absetzte, weil da nicht mehr ihr Sohn saß. Auf dem Amt sagte man ihr, sie und ihre Familie könnten auf keinen Fall ein autistisches Kind erziehen. Sie sei keine Fachkraft. „Aber ich bin doch seine Mutter“, sagt sie. „Keiner kennt meinen Sohn besser.“

Er wurde als nicht beschulbar eingestuft. Er müsse ins Heim, befand das Jugendamt, sonst könne sie ja nicht mehr arbeiten gehen. Sabine Melugin empfand das als Drohung. Und drohte zurück, ihren Beruf als Verkäuferin aufzugeben. Plötzlich klappte es. Daniel bekam einen Betreuer. Als er in der siebten Klasse war, kam ein Brief vom Landratsamt. Der Betreuer wurde gestrichen. Erst nach vielen Besuchen auf vielen Ämtern wurde ihr erneut einer genehmigt.

„Sie warten, bis sie dich abspeisen können“, sagt Melugin. Abwimmeln, sagt sie und erzählt von ständiger Angst, doch wieder einen Brief vom Landratsamt zu bekommen, in dem irgendwas drinsteht, was sie wieder und wieder zu Gutachtern und Psychologen zwingt. Aber mittlerweile kennt sie sich aus und bietet anderen Eltern Begleitung zu wichtigen Terminen. Damit sie nicht auch abgespeist werden, sagt sie. „Irgendwann kommt der Punkt, da kann man einfach nicht mehr alleine weiterkämpfen.“

Sabine Melugin brachte ihren Sohn in eine offene Einrichtung, nebenher besuchte er die Berufsschule. Aber dort gab es kaum Arbeit für ihn. „Sie saßen nur rum.“ Also brachte sie Stühle, sagt sie, zum reparieren. Zur Berufsschule gehörte ein Garten. Auch im Garten, sagt sie, sei nur monoton gearbeitet worden: fünfmal dieselbe Blume in einen anderen Topf gesetzt, fünfmal den Kompost von einem Platz an den anderen Platz versetzt. Ihr Sohn schrieb ihr: „Ich habe es satt, unsinnige Dinge zu tun.“

Dann gründete sie Selma. Die Betreuung wird finanziert über das persönliche Budget ihrer Gruppenmitglieder, einer Zahlung des Sozialamts. Erst waren es fünf, dann sechs erwachsene Autisten, Betreuer kamen dazu, junge Frauen, die das freiwillige soziale Jahr absolvierten, Zivis.

Wäre es nicht besser, von wenigen Profis betreut zu werden, die ihre Arbeit und Zeit gut organisieren, als von vielen Laien?, fragt ein Experte. Aber kenne ich meinen Sohn nicht besser als jede Fachkraft? fragt Sabine Melugin. Bin ich als Mutter eines Autisten keine Fachkraft? Muss ich studiert haben, um die Menschen zu betreuen, die seit drei Jahren jeden Tag bei mir sind, mit denen ich auf den Trimm-dich-Pfad gehe, in den Zoo, auf Wanderungen, mit denen ich viel Zeit verbringe?

Im vergangenen Jahr meldete die Stadt Eigenbedarf auf das Grundstück an. Sabine Melugin und ihre Autisten mussten umziehen. Das war Anfang des Jahres. Seitdem leben sie in Malschenberg in einem Einfamilienhaus. Die Einrichtung kommt aus dem Secondhand-Laden oder stammt aus Altbeständen der Patienten-Eltern, alles ist ordentlich, aber nicht luxuriös, gerade so, dass es reicht.

Morgens gibt es einen gemeinsamen Kaffee, dann wird gekocht – jeder hat eine Aufgabe. Lea schneidet Radieschen, zittert manchmal, Daniel zerpflückt Salat, der andere Daniel schneidet Schinkenstreifen. Ab und zu schaut er seine Hand verwundert an, aber er schreit nicht mehr. Das Schneiden von Gemüse und Fleisch – Arbeit vieler Monate. Daniel, erzählt Sabine Melugin, habe früher stundenlang gebraucht, um eine Kartoffel zu schälen, weil das autistische Gehirn Handlungsabläufe nicht steuern kann. Man muss sie immer wieder üben, manchmal über Jahre, das Kartoffelhalten, das Schälerhalten, die Bewegung, den Schäler über das Gemüse zu ziehen – eine unheimlich komplexe, verworrene Aufgabe. „Wenn man sich Zeit nimmt, klappt das irgendwann“, sagt sie.

Selma heißt: „Selbstbestimmtes Leben für Menschen mit Autismus.“ Das ist das Ziel: ihren Bewohnern Selbständigkeit beizubringen, so weit wie möglich. „Mein Traum ist es, einmal weniger Betreuer zu haben. Ein Mittagessen zu kochen, bei dem alle wissen, was sie zu tun haben und jeder ohne Anleitung seine Aufgaben erfüllen kann.“ Es ist manchmal laut bei Sabine Melugin. Manchmal hat sie Bisswunden am Arm, sie hat viele Schläge eingesteckt und viele Verletzungen hingenommen. Aber nie gezweifelt. Es passiert nicht mit Absicht, sagt sie. Man muss damit umgehen, ergründen woran es liegt, wenn Daniel ihr einen Rechen auf den Kopf schlägt. In dem Fall hieß es: „Ich brauche eine Pause.“ Sabine Melugin hat dem jungen Mann beigebracht, nicht mehr mit dem Gerät zu schlagen, sondern es ihr einfach in die Hand zu geben – als Zeichen. „Seitdem klappt es“, sagt sie. Kleine Erfolge.