„Sie arbeiten doppelt so viel, wie sie eigentlich dürften“

Lohnabrechnungen, wonach ausländische Arbeiter den in der Baubranche vorgeschriebenen Mindestlohn erhalten, sind oft fingiert, meint Agnes Jarzyna vom Europäischen Verband der Wanderarbeiter in Frankfurt. Denn wie viele Stunden sie schuften müssen, steht auf einem anderen Blatt

taz: Frau Jarzyna, in Düsseldorf stehen heute polnische Unternehmer vor Gericht, die ihre Landsleute zur Ausbeutung an deutsche Baufirmen vermittelt haben. Ein Einzelfall?

Agnes Jarzyna: Vor Gericht kommen diese Leute selten, doch die Ausbeutung von Wanderarbeitern aus Polen, Ungarn oder Rumänien hat dramatische Ausmaße angenommen. Die Arbeitnehmer werden unter Druck gesetzt, ein Papier über den Erhalt eines Mindestlohns zu unterschreiben, sonst erhalten sie keinen Lohn. Auf diesem Papier steht dann aber nicht, wie viele Stunden sie dafür geschuftet haben. Das sind oft doppelt so viele, wie sie eigentlich dürften.

Die Finanzkontrolle Schwarzarbeit (FKS) wurde extra eingerichtet, um diese Phänomene zu bekämpfen. Funktioniert die nicht?

Die FKS kann nur dann handeln, wenn ein konkreter Hinweis auf Schwarzarbeit vorliegt. Wenn sie dann auf die Baustellen kommt, kriegt sie fingierte Lohnabrechungen vorgelegt. Da steht zwar drauf, dass der in der Baubranche vorgeschriebene Mindestlohn eingehalten wurde und wie viele Stunden derjenige gearbeitet hat. Die wirkliche Stundenzahl steht auf einer anderen, versteckten Liste.

Wie kann dann so ein Fall überhaupt auffliegen?

Wenn zum Beispiel ein Arbeitnehmer einen Arbeitsunfall hat. Üblicherweise wird dieser dann innerhalb von zwei Stunden eingepackt und nach Hause geschickt. Falls es ihm gelingt, zu einem deutschen Arzt Kontakt aufzunehmen, bekommt dieser dann in den meisten Fällen heraus, dass der Betroffene keine Krankenversicherung hat.

Warum stehen in Düsseldorf nicht auch die deutschen Unternehmer vor Gericht?

Die Klage richtet sich erst einmal gegen den direkten Arbeitgeber, in diesem Fall den polnischen. Wenn dieser aber nicht zahlen kann, haftet das deutsche Unternehmen. Das ist Bestandteil des seit 1996 geltenden Arbeitnehmerentsendegesetzes.

Es gibt ja auch für ausländische Arbeitnehmer die Möglichkeit, sich in Deutschland selbstständig zu machen. Ist das der Ausweg aus der Ausbeutung?

Nein, im Gegenteil. Denn es handelt sich in den meisten Fällen um Scheinselbstständigkeit. Arbeitnehmer werden von ihren ausländischen Arbeitgebern dazu ermuntert, sich in Deutschland selbstständig zu machen. Für die Vermittlung an deutsche Unternehmen kassieren sie dann eine ordentliche Summe. Und die so genannten Selbstständigen werden wie auch die über Werkverträge entliehenen Arbeiter in Deutschland zu Dumpinglöhnen engagiert.

Wie kann man gegen diese Machenschaften vorgehen?

Was fehlt, ist eine bundesweite Instanz, die inländische und ausländische schwarze Schafe registriert. Wenn ein Unternehmen im Bundesland Hessen auffällig wird, steht diese Information den nordrhein-westfälischen Behörden nicht zur Verfügung. Gesetzlich müsste man nur einen kleinen Schritt tun, um die Lage erheblich besser kontrollieren zu können. Es existiert bereits eine offizielle Urlaubskasse, die von Arbeitgebern und -nehmern verwaltet wird. Wenn aus dieser nicht nur das Urlaubsgeld, sondern der gesamte Lohn ausbezahlt werden könnte, wären solche fingierten Abrechnungen kaum mehr möglich. Aber natürlich sträuben sich die Arbeitgeber gegen ein solches Vorhaben.

INTERVIEW: NATALIE WIESMANN