: Thinktanks und Avantgarde
CHINA Die Essaysammlung „Wie China debattiert“ und Mark Leonards Gesprächsband „Was denkt China?“ liefern wertvolle Beiträge chinesischer Intellektueller für ein differenzierteres Bild von der politischen Kultur des Landes
VON CHRISTIAN SEMLER
Während in unseren Breiten der Einfluss der Intellektuellen auf die Politik den Nullpunkt fast erreicht hat, ist er in China im steilen Aufstieg begriffen. Intellektuelle versammeln sich in zahlreichen, von der Regierung gesponserten Thinktanks zum Zweck der Politikberatung. Auch in den staatlichen und privaten Medien, vor allem aber im Internet finden wir kritische Analysen und Reformvorschläge, die sich von einzelnen Verbesserungsideen bis zum Großreinemachen des politischen Systems spannen. Aus der planen, vollständig von der Partei kontrollierten Wüstenei hat sich in den vergangenen Jahren ein vielgestaltiges politisches Relief erhoben. Was sind das für Leute, und für welche Ideen stehen sie?
Diesen Fragen widmen sich zwei soeben erschienene Bücher: „Wie China debattiert“, ein von der Heinrich Böll Stiftung herausgegebener Essayband, und „Was denkt China?“ vom britischen Politikwissenschaftler Mark Leonard, der seine Gespräche mit chinesischen Intellektuellen in den vergangenen zehn Jahren vorstellt. Beide Werke versuchen ein gesellschaftliches Panorama zu entwerfen, sind sehr gut lesbar, erweitern unseren politischen Horizont und laden uns dazu ein, etwas mehr zu differenzieren, wenn es um Chinas politische Kultur geht.
Stinkende Nummer 9
Das Verhältnis der chinesischen Intellektuellen zur Staatsmacht war in den 60 Jahren realsozialistischer Herrschaft äußerst bewegt. Der Antikonfuzianer Mao misstraute den intellektuellen Führungsgruppen, den Mandarinen, die China so lange im paternalistisch-autoritären Geist regiert hatten. Zweimal unterwarf er die Intellektuellen, die dem neuen Staat meist treu ergeben waren und am sozialistischen Aufbau mitwirkten, einer äußerst brutalen Kur. In der Anti-rechts-Kampagne der späten 1950er-Jahre mussten über eine halbe Million Intellektuelle Zwangsarbeit auf dem Land leisten. Viele überlebten nicht. Noch schlimmer erging es den Intellektuellen in der Kulturrevolution. In der Klassen/Schichten-Analyse der Linksradikalen standen sie am Ende der Rangskala als „stinkende Nummer 9“, sie wurden gedemütigt, verfolgt und um ihr Leben betrogen.
Bedenkt man diese traumatisierende Vorgeschichte, stellt man ferner in Rechnung, wie strikt die Partei über ihre Tabuzonen wacht (Tiananmen-Massaker, Unterdrückung in Tibet etc.), so frappieren die Offenheit und Direktheit der Intellektuellen im Sammelband „Wie China debattiert“. Beispielsweise Qin Hui in seinem Aufsatz „30 Jahre Reform und Öffnung“. Während, so seine These, von den institutionellen Reformen der ersten Phase, etwa der Auflösung der Volkskommunen, das Land und vor allem die Bauern profitierten, war die zweite Phase durch die Senkung der „Transaktionskosten“ bestimmt.
Das Wirtschaftswunder sei durch Beseitigung jedes Mitspracherechts der ArbeiterInnen, Massenentlassungen, Druck auf die Löhne und Liquidierung von Sozialleistungen erzielt worden. Die Versuche der Regierung, mittels Korrekturen die Kluft zwischen Arm und Reich, zwischen Dörfern und städtischen Zentren zu mildern, habe nur den „Spannraupeneffekt“ gebracht: Die Raupe streckt sich und zieht sich zusammen, geht aber immer in die gleiche Richtung. Egal ob Korrekturen nach links oder nach rechts erfolgen, die Richtung heißt stets verstärkte Ausbeutung und Verarmung der Bauern und Lohnabhängigen.
Der Autor Li Changping kritisiert, dass die Bauern „nicht die vollen Rechte eines Marktteilnehmers erhalten, dass aber andererseits von ihnen gefordert wird, sich in Richtung des Marktes zu bewegen“. Die Arbeitslosigkeit auf dem Land könne nur dann wirkungsvoll bekämpft werden, wenn nicht den „Kaderkapitalisten“, sondern autonomen Bauerninstitutionen die staatlichen Investitionen anvertraut werden. Wie Chin Hui fordert Li Changping die Zulassung unabhängiger Bauernverbände und Gewerkschaften.
Zgan Jiang beschäftigt sich mit den Medien als treibender Kraft einer Bürgerbeteiligung. Er konstatiert ein Wachstum des kritischen Journalismus, ohne die massiven Interventionen gegen Journalisten zu verschweigen. Allerdings sieht er für die journalistische Arbeit die Gefahr einer „doppelten Feudalisierung“ durch die Staatskontrolle einerseits und die lediglich an Profitinteressen orientierten Medien andererseits. Dem Zusammenwirken der hauptsächlich von unabhängigen Intellektuellen gestützten NGOs und der kritischen Medien schreibt Zgan eine Avantgardefunktion zu.
Zebrastreifen für Pferde
Mark Leonard konzentriert sich in seinem flott geschriebenen Gesprächereport fast ausschließlich auf den Bereich der Politikberatung. Die gesamte Reformperiode sei durch einen durchgehenden Links-rechts-Antagonismus gekennzeichnet. In der Frühphase der Reform seien die Rechten am Zug gewesen. Sie befürworteten den vollständigen Übergang zu Marktwirtschaft und Privateigentum, dem dann die politische Reform folgen würde. Allerdings, so der führende Rechte Zhang Weiying, vorsichtig, Schritt für Schritt. So wie man die Bevölkerung eines Dorfs, die bislang nur mit Pferden arbeitete, dadurch an die effektiveren Zebras gewöhnte, indem man zunächst den Pferden Zebrastreifen aufmalte.
Die sozialen Probleme, denen die Linie „Erst müssen einige reich werden“ auf den Fuß folgte, führte zu einer linken Gegenbewegung. Deren Vertreter haben nichts mit den nach wie vor real existierenden Dogmatikern zu tun. Sie befürworten die Marktwirtschaft, unterstützen aber punktuelle Experimente genossenschaftlichen Charakters und sind dafür, auf lokaler Ebene Formen der unmittelbaren Demokratie zu erproben. Die Linken sind im Gegensatz zu den Rechten für einen starken zentralen Staat, der zugunsten der armen Mehrheit intervenieren soll. Der gegenwärtige Staat, so die Linken, ist an den falschen Stellen (den Repressionsapparaten) stark, aber an den richtigen Stellen (der Wirtschafts- und Sozialpolitik) schwach.
Leonard konstatiert drei Hauptrichtungen, in die sich seiner Meinung nach die Politikberatung in China bewegt: einen „Gelben-Fluss-Kapitalismus“, der sich nicht vollständig dem Weltmarkt ausliefert und weiterhin auf staatliche Entwicklungspolitik setzt, eine „deliberative Demokratie“, die das Einparteiensystem nicht antastet, aber über Konsultationen, Expertentreffen, gezielte Umfragen und Wahlen auf der unteren Ebene lernfähig macht, und drittens die Konzeption der „umfassenden nationalen Macht“, die sich in internationale Organisationen einfädelt und Verantwortung übernimmt, gleichzeitig aber an der Bewahrung nationaler Souveränität festhält. Die politische Dramaturgie Leonards ist etwas überspitzt geraten, erleichtert es dem Leser aber, sich auf dem komplizierten chinesischen Gelände zurechtzufinden.
■ Mark Leonard: „Was denkt China?“. Aus dem Englischen von Helmut Dierlamm. dtv premium, München 2009, 200 S., 14,90 Euro
■ Heinrich Böll Stiftung (Hrsg.): „Wie China debattiert. Neue Essays und Bilder aus China“. Berlin 2009, 200 S., 10 Euro