herr k. macht einen aufguss
: Probleme bei Pitkämäki

Warum den finnischen Nationalheiligen Lasse und Paavo nach der Speerwurf-Entscheidung Tränen übers Gesicht laufen

Lasse und Paavo stehen nur wenige Meter auseinander, und so richtig glücklich sehen sie nicht aus. Vierfacher Olympiasieger ist der eine, neunfacher der andere. Deswegen hat man die beiden ja in Bronze gegossen und vor das Olympiastadion von Helsinki gestellt. Da stehen Lasse Virén und Paavo Nurmi nun also, und der finnische Regen tropft ihnen von der Nase. Es ist in diesem Land augenscheinlich nicht leicht, eine Legende zu sein.

Tero Pitkämäki wollte trotzdem eine werden am regnerischen Mittwochabend. Vielleicht keine ganz so große wie Lasse und Paavo, aber das hat auch damit zu tun, dass die beiden ja Ausdauerläufer waren – und Pitkämäki nur Speerwerfer ist. Nicht, dass die Finnen es nicht mögen würden, wenn ein junger Mann Speere schleudert. Sie haben die Disziplin ja miterfunden; aber noch mehr lieben sie eben das ausdauernde Laufen, wofür sie vor Urzeiten eigens tiefe Wälder im Land der tausend Seen angepflanzt haben.

Aber diese feinen Unterschiede sollen hier gar keine Rolle spielen. Denn zum einen liebt der gemeine Finne prinzipiell alles, was irgendwie nach Leichtathletik aussieht; zum anderen – und das ist nun wirklich ein Problem – hat er just in dieser seiner Lieblingssportart schon lange nichts mehr gewonnen, nicht das kleinste Medaillchen. Weder bei Olympia in Athen noch bei der letzten WM in Paris. Für ein Land, in dem, wie es die Frankfurter Allgemeine gerade gedichtet hat, die Seele der Leichtathletik liegt, muss das bitter sein.

Deswegen traf es sich gut, dass Tero Pitkämäki, gerade mal 22 Jahre, diesen Juni kurz vor der Weltmeisterschaft im eigenen Land, den Speer auf 91,53 m geworfen hatte, so weit wie davor und danach kein anderer in dieser Saison. Seitdem war Pitkämäki die große Medaillenhoffnung seines Landes. Die Seele der Leichtathletik, so schien es, hatte endlich wieder einen Körper gefunden. Und kaum ein Tag verging, an dem die Zeitungen und Radiostationen Finnlands nicht über das Wohlbefinden dieses beseelten Körpers berichteten. Dann kam der Mittwoch, und natürlich regnete es mal wieder in Strömen.

Der Finne ist so etwas ja gewohnt, schon an den Regentagen zuvor ließ er sich durch diese Kleinigkeit nicht vom Stadionbesuch abhalten. Diesmal aber stülpten sich noch mehr Finnen ihre Regenjäckchen und Gummistiefel über und strömten ins Olympiastadion. Alle wollten sie live dabei sein, wie einer der ihren zur Legende werden würde.

Aber es lief nicht richtig an diesem Abend bei Pitkämäki, von Anfang an nicht. Auf schwache 75,44 Meter warf er den Speer bei seinem ersten Versuch, ungültig war sein zweiter. Okay, es regnete in Strömen und der Wind blies unberechenbar, aber das tat es für die anderen Werfer ja auch. Außerdem: Pitkämäki ist Finne, es war also sein Wetter. Aber er schien es nicht so zu empfinden. Und als die Fernsehkameras Bilder von ihm auf die großen Videoleinwände warfen, konnte man ein aufgeregtes Flackern in seinen braunen Augen erkennen. Flackerten sie etwa vor Angst, der Angst, zu versagen?

Man weiß es nicht. Tero Pitkämäki hat es auch nach dem Wettkampf nicht erzählt, er war da ganz Finne – und hat geschwiegen. Davor freilich durfte es der 22-Jährige noch vier weitere Male versuchen, und jedes Mal wiederholte sich das gleiche Ritual: Das Publikum klatschte wie wild, Pitkämäki warf, das Publikum stöhnte auf und verstummte. 81,27 Meter standen am Ende für ihn zu Buche. Es reichte nicht für Gold, das mit 87,17 m an den Esten Andrus Värnik ging. Es reichte nicht für Silber, das mit 86,18 m der Norweger Andreas Thorkildsen gewann. Es reichte nicht für Bronze, das sich mit 83,54 m der Russe Sergey Makarov erwarf. Es reichte für Rang vier, nur Rang vier.

Nach seinem letzten Wurf setzte sich Tero Pitkämäki auf eine Bank im Innenraum, schüttelte den Kopf, zuckte die Schultern. Man konnte seine Ratlosigkeit sehen, aber auch die tiefe Enttäuschung, die nicht nur ihn, sondern auch alle anderen Finnen im Stadion ergriffen hatte. Kurz darauf zogen sie schweigend nach Hause. Vorbei an Lasse und Paavo, denen immer noch der Regen von der Nase tropfte. Oder waren es Tränen?

FRANK KETTERER