TÜRKEI: PREMIER ERDOGAN FEHLT DER MUT ZU EINER NEUEN KURDENPOLITIK : Sympathien verspielt
Vor fünfzehn Jahren ließ Tayyip Erdogan einen Kurdenbericht verfassen. Neben kulturellen und wirtschaftlichen Reformen schlug er eine neue Identität der Türken als „Verfassungsbürger“ vor. Das Land sollte demokratisiert und dezentralisiert werden. Jeder Einwohner, ob Kurde, Lase, Tscherkesse oder ethnischer Türke, sollte sich als „Bürger der Türkischen Republik“ bezeichnen.
Die Kurden hegten Sympathien für den gerade aus dem Gefängnis entlassenen Politiker. Wenn moderate Islamisten mit dem Kemalismus aufräumten, stünde einer kurdischen Autonomie nichts mehr im Wege. Tatsächlich legte sich Erdogan aufgrund seiner islamischen Agenda mit dem Militär an – dem Gralshüter des Einheitsstaates. Unterstützt wurde er dabei von der Europäischen Union. Die kurdische Partei Dehap ihrerseits begrüßte den US-Einmarsch im Irak und begann, hoffnungsvoll über die Grenze zu schauen: Kam der Traum eines großkurdischen Staats mit den USA im Irak und Erdogan in Ankara näher? Aber die Dehap begann auch, eigene Beziehungen zur EU und den USA zu unterhalten – was Erdogan und seine muslimische Basis sehr verärgerte.
Wenn der türkische Premier heute Diyarbakir besucht, hat er keine Sympathien mehr für kurdische Autonomiewünsche. Den kurdischen Bürgermeister hat er demonstrativ aus seinem Besuchsprogramm ausgeklammert. Dass er im letzten Jahr die Kurdenpolitikerin Leyla Zana nach ihrer Entlassung aus der Haft in Ankara empfing, hätte beinahe seine Partei gespalten. Bei der Bekämpfung der kurdischen PKK zählt Erdogan wie alle seine Vorgänger auf die Armee. Er befürchtet zu Recht Aufstände im Südosten und in den Metropolen, wenn der Sog des de facto existierenden Kurdenstaates zu groß wird und arbeitslose Kurden beginnen, die Reihen der PKK aufzufüllen. Die Armut unter den Kurden im Südosten der Türkei schreit zum Himmel.
Der Ministerpräsident weiß nicht, was er tun soll. Denn seine Wirtschaftspolitik wird vom IWF diktiert, seine Kurdenpolitik von der Angst vor dem Kurdenstaat im Nordirak. Derweil erlebt der türkische Nationalismus eine Hochblüte. Die extrem rechte Nationalistische Bewegungspartei MHP erreicht laut Umfragen über 18 Prozent, Tendenz steigend. Schlimmer noch: Mit jedem von der PKK getöteten Soldaten verbreiten sich im Land nicht nur Anti-PKK-Proteste, sondern auch antikurdische Ressentiments. Die türkische Regierung ist von einer Lösung der Kurdenfrage so entfernt wie noch nie und schaut der Eskalation der Gewalt hilflos zu. DILEK ZAPTCIOGLU