: Weniger Rente für die Kranken
Berufskranken droht finanzielles Unheil, weil CDU-Länder ein Gesetz ändern wollen
MÜNCHEN taz ■ Hamburg und Niedersachsen haben im Bundesrat eine Änderung des Sozialgerichtsgesetzes beantragt. Wenn sie Erfolg haben, bekommen Berufskranke künftig noch seltener als bisher eine Entschädigung. Das gilt zum Beispiel für Klaus Lingenau-Höntzsch: Der Chemiearbeiter wurde mit 36 Jahren erwerbsunfähig. Die chemischen Stoffe haben seine Nerven und Organe schwer geschädigt. Er ist pflegebedürftig.
Seine Familie kämpft für ihn vor Gericht – für eine Berufsunfallrente von der Berufsgenossenschaft. Sie wird immer wieder abgelehnt. Die Berufsgenossenschaft darf die Gutachter bestimmen, die zu Rate gezogen werden. Diese entscheiden oft nur nach Aktenlage, behaupten, Klaus Lingenau- Höntzsch sei gar nicht krank oder nicht durch die Chemie krank geworden.
Lingenau-Höntzsch und andere, die vor den Sozialgerichten um ihre Rechte kämpfen, haben eine kleine Chance: Paragraf 109 des Sozialgerichtsgesetzes. Er gewährt den Versicherten in strittigen Fällen einen Anspruch auf einen Gutachter eigener Wahl. Hamburg und Niedersachsen wollen ihn nun abschaffen. Die Begründung: Die Vorschrift verzögere die Verfahren und entspreche nicht dem „Amtsaufklärungsgrundsatz“. Die beiden unionsgeführten Länder hatten den Antrag schon im Januar eingebracht, dann ruhten die Beratungen. Ende Juni hat sich die Justizministerkonferenz dafür ausgesprochen, die Gesetzesinitiative im Bundesrat weiter zu beraten.
Gegen die Abschaffung formiert sich Widerstand – etwa beim Sozialverband VdK Deutschland. Gerhard Helas, Leiter der Bundesrechtsabteilung des VdK: „Das wäre ein schlimmer Verlust für die Versicherten und Unfallgeschädigten.“ Er kritisiert, dass mit der Gesetzesinitiative eine so genannte Präklusion eingeführt werden soll: Ein verspätetes Vorbringen etwa eines schwerwiegenden Arztbefundes würde ausgeschlossen. Der Deutsche Gewerkschaftsbund kritisiert in einem Posionspapier den geplanten Wegfall des Paragrafen, da er ein „Instrument der Waffengleichheit“ sei. Über Verfahrensverzögerungen gebe es keine Beschwerden.
Womöglich stellt sich auch der Deutsche Anwaltsverein gegen die Abschaffung. Mitglied Ingolf Spickschen bereitet ein Papier dafür vor. Der Rechtsanwalt und Datenschutzexperte sagt: „Wenn der Paragraf fällt, zählen nur noch die Gutachten der Sachverständigen, die von Berufsgenossenschaften und Sozialgerichten eingesetzt werden.“ Aus seiner Sicht gäbe es dann gar keine Gewaltenteilung zwischen Berufsgenossenschaften und Sozialgerichten mehr. Das andere Problem: Die Gutachter seien oft durch Beraterverträge mit den Berufsgenossenschaften verbunden – und parteiisch.
Betroffenenverbände wie die Initiative kritischer Umweltgeschädigter (IKU) berichten ebenfalls von Parteinahme und sogar Fälschungen der Gutachter. „Wir sehen uns einem Kartell von Gutachtern, Berufsgenossenschaften und Industrievertretern ausgesetzt“, sagt IKU-Geschäftsführer Peter Röder. Auch die hohe Zahl der Rentenablehnungen von zum Teil 95 Prozent zeigt ein Ungleichgewicht.
Für die Kranken ist der Paragraf 109 noch ein Rettungsanker, um einen unparteiischen Gutachter zu benennen. Hilfe bei der Suche bieten die IkU oder der Verband arbeits- und berufsbedingt Erkrankter (Abekra). Problem: Das Gutachten kostet etwa 2.000 bis 3.000 Euro. Die Betroffenen müssen es selbst bezahlen, wenn es für die Gerichtsentscheidung nicht bedeutend war. Angesichts der häufigen Ablehnungen ist das ein großes Risiko – besonders für Menschen wie Lingenau-Höntzsch, die nach langer Krankheit so viel Geld nicht einfach übrig haben.
BRITTA BARLAGE
Die IkU ist dringend auf Spenden angewiesen, um Kranke zu unterstützen. Konto: Peter Röder, Kto.-Nr. 809616, BLZ 79069150