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Eine großartige Ruine

Kaum älter als dreißig war Sergej Eisenstein, und doch als Regisseur der Propaganda-Meisterwerke „Panzerkreuzer Potemkin“ und „Oktober“ schon weltberühmt, als er im Jahr 1930 nach Hollywood kam. Die sowjetische Filmindustrie ließ ihn für einen zeitlich begrenzten Aufenthalt ziehen, sie versprach sich davon nicht zuletzt Expertise für die neue Tonfilmtechnik. Und Eisenstein selbst war neugierig und hatte auf Einladung der Paramount, unterstützt von Hollywood-Linken wie Charlie Chaplin, sogleich große Pläne. Aus denen jedoch, einer Theodore-Dreiser-Verfilmung etwa, wurde nichts.

Doch Eisenstein gab nicht auf. Er tat sich mit dem sozialistischen US-Erfolgsautor Upton Sinclair zusammen und erhielt von diesem die Zusage für die Finanzierung einer unabhängigen Produktion. Nicht in den USA, sondern in jenem Nachbarland, das zwei Jahrzehnte zuvor eine Revolution erlebt hatte: Mexiko. Mit seinem vertrauten Team, dem Kameramann Eduard Tisse und dem Assistenten Grigorij Alexandrow, brach Eisenstein auf, allerdings ohne auch nur die Ansätze eines Drehbuchs im Kopf. Als Produzenten und Ausgabenwauwau schickte Sinclair seinen leider reichlich reaktionär gesinnten Schwager mit auf die Reise. Vom Film verstand der so wenig wie Sinclair selber. Darum und auch, weil Eisenstein ein zu Kompromissen niemals bereiter Sturkopf war, steuerte die Angelegenheit bald in Richtung Desaster.

Viel zu knapp waren das Zeit- und Finanzbudget angesetzt. Eisenstein und sein Team begannen erst nach und nach und auf langen und komplizierten und teils sehr vergeblichen Reisen durchs Land, ein Konzept für den Film zu entwickeln. In einer Mischung aus dokumentarischen und Spielszenen sollte ein Porträt Mexikos entstehen, von mythischer Vorzeit bis in die Gegenwart. Sechs Kapitel waren geplant, Material für fünf von ihnen wurde fertiggedreht, das letzte, entscheidende aber, das die Revolution schildern sollte, kam nicht mehr zustande. Upton Sinclair konnte, auch in Moskau, keine Gelder mehr auftreiben, geriet an den Rand des Nervenzusammenbruchs und brach das Projekt ab. Eisenstein wurde von Stalin persönlich zur Rückkehr gemahnt, war vertraglich verpflichtet, das gedrehte Filmmaterial Sinclair zu überlassen und sah es bis zu seinem Tod im Jahr 1948 nicht mehr wieder.

Der ließ das zentrale Kapitel „Maguey“ zu einem kurzen Film schneiden, der aber sang- und klanglos unterging. Erst in den Siebzigerjahren gelangte das Material vom New Yorker Museum of Modern Art in die Sowjetunion, wo Eisensteins damaliger Assistent Alexandrow – der inzwischen selbst eine recht erfolgreiche Karriere als Regisseur hinter sich hatte – nach Notizen des Meisters eine eigene Schnittfassung erstellte. Mit teils recht seltsamem Synthesizer-Musik-Soundtrack, mit Sprechkommentar und, besonders irritierend, mit Hufgetrappel-, Schuss- und Stierkampfapplaus-Soundeffekt. Ob in Eisensteins Händen ein in sich geschlossenes Meisterwerk aus „Que Viva Mexico!“ hätte werden können, bleibt schwer zu sagen. Was jetzt existiert, ist gewiss eine Ruine, aber immerhin eine aus vielen faszinierenden Stücken.

Ein monumentaler Eingang gehört dazu, der Statuen aus Stein und Gesichter der Lebenden in selbst wieder statueske Bilder rahmt. Schaurig und komisch und sehr bewegt der Epilog, in dem der Tod in Maskenspiel und Karneval verspottet wird. An F.W. Murnaus ziemlich genau zeitgleich entstandenes Meisterwerk „Tabu“ erinnert der Abschnitt „Sandunga“, der eine in paradiesische Landschaften gemalte Liebes- und Hochzeitsgeschichte erzählt. Dann gibt es katholische Rituale und (endlosen) Stierkampf, alles atemberaubend gefilmt von Tisse, der Vorder- und Hintergründe oft fast abstrakt gegeneinander komponiert. Höhepunkt des Films, wie er nun existiert, ist aber das „Maguey“-Kapitel: eine Rachegeschichte, die bitter ausgeht; die narrativste Episode, die auch in Alexandrows Fassung wuchtige Bilder und eine westernartige Handlung eindrucksvoll ineinander montiert. Es gibt seit längerem Pläne, eine den Absichten Eisensteins treuere Schnittversion zu erstellen. Fürs Erste gibt aber diese DVD spannende Auskunft über eines der großen gescheiterten Projekte der Filmgeschichte. EKKEHARD KNÖRER

■ „Que viva Mexico! – Es lebe Mexiko!“. Regie: Sergej Eisenstein, Grigorij Alexandrow. Schwarz-weiß, UdSSR 1979, 84 Min. Icestorm-Entertainment, 14,99 €