: Sechzehn Zuckerdosen und ein Totenbuch
Vor 60 Jahren machte der sowjetische Geheimdienst das einstige Konzentrationslager Sachsenhausen zum Internierungslager. Statt NS-Täter traf es vor allem Mitläufer, niedrige Funktionäre und Unschuldige. Zum Jahrestag erinnern ein Totenbuch und eine Ausstellung an das Leid der Inhaftierten
Nach einem langem Gewaltmarsch trafen am 16. August 1945 die ersten Häftlinge im Speziallager Sachsenhausen bei Oranienburg ein. Da stand das ehemalige Konzentrationslager der Nationalsozialisten gerade mal vier Monate leer – die letzten, etwa 3.000 im Lager zurückgebliebenen Insassen, unter ihnen viele Kranke, waren im April 45 von russischen und polnischen Einheiten der Roten Armee befreit worden. Doch die Befreier wurden bald zu neuen Wärtern – ein Kapitel aus der dunklen Geschichte Sachsenhausens, das weniger bekannt ist. Gestern wurde in der Gedenkstätte Sachsenhausen eine Sonderausstellung über die grausame Nachnutzung des Lagers eröffnet und ein „Totenbuch-Projekt“ vorgestellt. Heute wird ein ökumenischer Gottesdienst gefeiert.
„Sowjetisches Speziallager Nummer 7“ nannte Stalins Geheimdienst NKWD das ehemalige KZ bei Berlin, in dem nach Kriegsende „Nazichargen“ interniert werden sollten. Bis zur endgültigen Auflösung des Lagers im Frühjahr 1950 waren hier rund 60.000 Männer, Frauen und auch Kinder in jenen Baracken eingesperrt, in denen zuvor die Nazis zwischen 1936 und 1945 über 200.000 Menschen inhaftiert und mehr als 100.000 getötet hatten.
Im weitaus größten der insgesamt 10 Speziallager der sowjetischen Besatzungszone wollte der Geheimdienst die Täter unter den Deutschen für ihre grausamen Verbrechen bestrafen, junge „Werwölfe“ sollten umerzogen werden. Statt der wahren Täter traf es aber, wie man heute weiß, vor allem Mitläufer, niedrige Funktionäre und auch viele Unschuldige. „Die Schuldfrage ist bis heute ein großes, ungeklärtes Problem“, sagt der Pressesprecher der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten, Horst Seferens. Die Vergehen der Inhaftierten aufzuarbeiten, darum sei es den Besatzern offenbar nicht gegangen. Nur wenige Häftlinge waren überhaupt durch sowjetische Militärtribunale verurteilt worden, die jedoch mehr Schauprozesse als rechtsstaatliche Verfahren waren. Die meisten Gefangenen hatten nie einen Richter gesehen. Diesem Versäumnis heute nachzugehen sei unmöglich, sagt Seferens.
Sicher dagegen weiß man, dass die Todesrate wegen der katastrophalen Bedingungen im Lager extrem hoch war. Etwa 12.000 Menschen mussten in diesem Stück Gulag ihr Leben lassen. Sie starben an Hunger, Kälte und Krankheiten und wurden anschließend anonym in Massengräbern in der Umgebung verscharrt. Ein Totenbuch soll nun die Namen und persönlichen Daten der im Speziallager Nr. 7 (später Nr. 1) Umgekommenen zusammentragen und dokumentieren.
Stützen können sich Historiker dabei auf zwei wichtige Quellen, die mit der Öffnung der sowjetischen Archive nach der Wende zugänglich gemacht wurden: das Lagerjournal und das Totenregister – beide sind jedoch in kyrillischer Schrift verfasst, sodass die deutschen Namen der Verstorbenen oft nicht korrekt überliefert wurden. Für die Erstellung des Totenbuchs werden sie nun mit deutschen Quellen abgeglichen. Die Namen und Daten exakt zu dokumentieren sei Teil der humanitären Aufgaben von Gedenkstätten, begründet Günter Morsch, der Direktor der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten, das rund 120.000 Euro teure Projekt. Finanziert wird es von der Gedenkstätte und dem Roten Kreuz sowie durch die Stiftung Aufarbeitung der SED-Diktatur.
Von den Zuständen im Lager und der allgegenwärtigen Unterernährung handelt die Ausstellung „Bittersüß“, die gestern neu eröffnet wurde. Winzige Aluminiumdosen, die in den letzten Jahren bei Bauarbeiten auf dem ehemaligen Lagergelände gefunden wurden, zeugen davon, wie Häftlinge ihre knappen Zucker- und Marmeladenrationen einem Schatz gleich hüteten. Viele der Behälter, die nur etwa fünf Zentimeter Durchmesser haben, wurden von Internierten liebevoll mit Namen, Symbolen und Piktogrammen graviert. Anhand dieser Gravuren konnten 16 Dosen ihren damaligen Besitzern zugeordnet werden, sodass sie nun stellvertretend 16 Biografien erzählen. TINA HÜTTL
Im Internet: www.gedenkstaette-sachsenhausen.de