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Archiv-Artikel

Feiern im Homoparadies

In Island kam der Gay-Pride-Event erst nach der Emanzipation. Er ist rasch zu einer der größten Veranstaltungen des Landes geworden. Dabei gibt es für die Bewegung fast nichts mehr zu fordern

Sind etwa nicht alle Forderungen der Lesben und Schwulen erfüllt worden?, fragte ein Reporter des staatlichen Radiosenders RUV

VON WOLFGANG MÜLLER

Nun ist der Reykjavík Gay Pride tatsächlich zur größten Veranstaltung Islands geworden, stellt die Zeitung Grapevine in ihrer aktuellen Ausgabe fest. Mit geschätzten vierzigtausend Menschen kann es das lesbisch-schwule Großereignis inzwischen sogar mit dem 17. Juni, dem Unabhängigkeits- und Nationalfeiertag aufnehmen. „Aber während der 17. Juni ja inzwischen eine müde Angelegenheit geworden ist, trägt der Gay Pride den Geist des Kampfes weiter“, so Popstar Páll Oskar. Er selbst war 1997 mit „Minn hinsti Dans“ als erster offen schwuler Sänger für Island im populärsten Tuckencontest, dem Grand Prix Eurovision aufgetreten. „Im Gegensatz zum Nationalfeiertag hissen wir aber keine Transparente für Firmen wie Vodaphone oder McDonald’s.“

In der Tat lief in Island alles irgendwie andersherum. Am 27. Juni 1996 brachte der Justizminister Thorsteinn Pálsson von der konservativen Regierungspartei ein Partnerschaftsgesetz für Lesben und Schwule ins Althing, das isländische Parlament, ein. Vierundvierzig Abgeordnete stimmten dafür, ein einziger gegen das Gesetz. Zwei Jahre später überlegten einige Mitglieder der isländischen Lesben- und Schwulenorganisation Samtökin 78, ob das Land nicht auch einen Gay-Pride-Event brauchen würde. Im Jahr 1999 bot sich mit „Dreißig Jahre Stonewall“, dem legendären Schwulenaufstand in New York, der historische Anlass. Ein Open-Air-Konzert mit der Band Sigur Rós leitete mit beachtlichen 1.200 Besuchern den Siegeszug des Gay Pride in Island ein.

Im folgenden Jahr gab es den ersten Umzug durch die Stadt, die „Glediganga“, den „Umzug der Freude“. „Zuerst fürchteten wir, dass die ganze Angelegenheit etwas albern aussehen könnte“, so der Mitinitiator und Übersetzer Veturlidi Gudnason, „dass nämlich ein Häufchen Lesben und Schwuler verloren den Laugavegur, die einspurige Hauptstraße von Reykjavík, hinunterläuft – mit ein paar bunten Luftballons in der Hand.“ Doch es war ein langer Samstag und die Stadt voller Menschen, die dicht gedrängt auf den Bürgersteigen den fröhlichen Umzug betrachteten. „Nein, ein Protestmarsch ist das wirklich nicht“, setzt Veturlidi hinzu, „aber Sichtbarkeit ist wichtig.“

Während Árni Johnsen, der einzige Parlamentsabgeordnete, der seinerzeit gegen das Partnerschaftsgesetz gestimmt hatte, wegen Veruntreuung von Baumaterial inhaftiert wurde – er hatte Holz, dass für das Nationaltheater bestimmt war, heimlich für die Renovierung seines Wochenendhäuschens auf den Westmännerinseln abgezweigt –wuchs der isländische Gay Pride, nun betitelt als „Hinsegin dagar“, etwa „Queere Tage“, im folgenden Jahr auf 12.000 Teilnehmer. Im Jahr 2001 wurden schon über 20.000 gezählt. „Da kamen nicht nur die Einwohner Reykjavíks, sondern jede Menge Besucher und Schaulustige aus dem Umland“, so Heimir Már Pétursson, der Generalmanager des Events. „Mit 40.000 geschätzten Teilnehmern ist der Gay Pride inzwischen die zweitgrößte Veranstaltung des Landes“, wehrt Heimir bescheiden das Superlativ von Grapevine ab. „Mehr Menschen würden ja auch gar nicht in die Stadt passen.“

Die Organisatoren des Unternehmens brauchten zum Gelingen durchaus etwas Größenwahn, bestätigt der Generalmanager: „Deshalb waren wir nach Etablierung des Ereignisses darauf angewiesen, finanzielle Unterstützung zu bekommen.“ Das funktionierte überraschend gut. Von Beginn an sponserte Icelandair Flüge für die Künstler aus dem Ausland. Heimir fügt lakonisch hinzu: „Die Wirtschaft und die Stadt nahmen die Gelegenheit wahr, eine große Zielgruppe anzusprechen.“ Was aber den Gay Pride von entsprechenden Veranstaltungen in Deutschland und anderen Ländern unterscheidet, ist, dass Firmen oder Parteien die Optik hier nicht beherrschen. Trotz lukrativer Lockungen gelang es dem Werbebanner von Vodaphone nicht, die Tribüne der Abschlussveranstaltung zu erklimmen. Auf den Umzugswagen flattern keine Werbebanner fur Getränkefirmen oder Diskotheken.

„Das war uns überaus wichtig“, bestätigt Paradeleiterin Gudbjörg Ottósdóttir. „Die Firmen können gern in unserem Programmheft inserieren und für sich mit dem Ereignis werben.“ Davon profitierten sie genug. Während für die großen CSD-Umzüge in Europa Gruppen und Vereine zwecks Finanzierung inzwischen hohe Gebühren zahlen müssen, wird im isländischen Programmheft zur Teilnahme am Umzug aufgefordert. Und die ist kostenlos: „Wenn du Ideen hast und teilnehmen willst, dann besuche unsere Werkstatt. Da findest du alles an Material, was du brauchst für Wagen, Deko und Kostüm.“

Am vergangenen Samstag nun versammelten sich achtundzwanzig angemeldete Gruppen am Busbahnhof Hlemmur, dem Bahnhof Zoo des eisenbahnlosen Landes. Darunter amnesty international, die Gemeinschaft der Gehörlosen, der Lederclub MSC, Frauengruppen, die Gruppe der Eltern und Verwandten von Schwulen und Lesben und zum dritten Mal eine Delegation aus Akureyri, mit 16.000 Einwohnern zweitgrößte Stadt des Landes. Auf einem Holzpodest thronte der Gewinner des diesjährigen Drag-Queen-Contests: Halla Frímanssdóttir, ein eleganter Drag-King in Leder und mit Kinnbart. Ausgesprochen ansehnlich auch eine Art „Lebendes Bild“ aus dem Landleben, allerdings nicht in Posen erstarrt, sondern sehr bewegt. Vier junge Männer bei der Landarbeit: im groben Baumwollhemd, Islandpullover und Arbeitshose. Mit rosigen Wangen schippten sie emsig Heu auf dem Anhänger eines antiken Traktors.

Eineinhalb Stunden zog sich der Zug zwei Kilometer durch die enge Hauptstraße bis zur Austurstræti. Manches Kleid und Transparent füllte die gesamte Breite der Straße samt Bürgersteig. Der deutsche Vulkanologe Gustav Georg Winkler kam mir in den Sinn, der in seinem Island-Reisebuch aus dem Jahr 1861 schildert, wie er von zwei Frauen in den damals hochmodernen Krinolinen fast von der Austurstræti gefegt worden wäre. „Nun habe ich hier zwar keine Eisbären vermutet, aber so hoch im Norden auch nicht das Vorkommen des Reifrockes erwartet.“

Auf dem zentralen Kundgebungsplatz in der Lækjargata flatterten die Regenbogenfahnen hysterisch im Sturm. Zum Glück: Der von den Metereologen angekündigte heftige Dauerregen wurde so einfach um ein paar hundert Kilometer westlich zum europäischen Kontinent hin verweht. Auf der Bühne forderte der isländische Sozialminister Árni Magnússon, dass nun die rechtliche Gleichstellung in allen Punkten realisiert werden müsse, das volle Adoptionsrecht eingeschlossen.

Musiker und Entertainer aus Island, Norwegen, Schottland und San Francisco traten auf. Der Elektro-Punk-Pop-Musiker Namosh aus Berlin erklomm wagemutig die Metallkonstruktion neben der Bühne, um aus luftiger, sturmumtoster Höhe zu singen: „Put your tongue out of my mouth!“ Der Luftverkehr über Reykjavík wurde eingestellt, damit viele tausend regenbogenfarbene Luftballons in den Himmel aufsteigen konnten.

Hektisch zogen sie westwärts, in Richtung Grönland, wo es übrigens seit 2002 auch einen Gay Pride gibt. Was gibt es eigentlich noch zu fordern?, fragte ein Reporter des staatlichen Radiosenders RUV den Generalmanager Heimir. Sind etwa nicht alle Forderungen der Lesben und Schwulen erfüllt worden? Ist Island nicht ein Homoparadies? „Rechtlich gesehen ja.“ Nun gelte es, das Herz der Nation zu erobern.