Katrin Seddig Fremd und befremdlich: Verursachen wir einen Regenwaldbrand, wenn wir ein Brot mit Nutella essen?
Katrin Seddig ist Schrift-stellerin in Hamburg mit einem besonderen Interesse am Fremden im Eigenen. Ihr jüngster Roman „Das Dorf“ ist bei Rowohlt Berlin erschienen.
Am Samstag durfte ich einer Generalprobe in der Elbphilharmonie beiwohnen. Ich war überwältigt. Kent Nagano hat ein Orchester und einen gewaltigen Chor dirigiert. Ich werde noch heute in ein kleines, gutsortiertes Musikgeschäft gehen, und mir „Die erste Walpurgisnacht“von Mendelssohn Bartholdy kaufen. Ich habe keine Ahnung von klassischer Musik, aber wenn mir etwas gefällt, dann höre ich mir das immer wieder an, auf diese Weise lerne ich die klassische Musik eben auch ein bisschen kennen. Und diese Generalprobe hat mich ganz in eine andere Welt getragen, in eine Welt, wo alles Schönheit ist, Erhabenheit, und ich ganz kurz bereit war, an den Menschen zu glauben. Wenn er, der Mensch, so etwas erschaffen kann!
Nach diesem Erlebnis schwebte ich wie auf Flügeln durch die sonnige Hafencity, Aufruhr und Schönheit im Herzen, da erblickte ich etwas, das mir vorkam wie eine absurde, nihilistische Fata-Morgana. Ein Nutella-Café. Wie ich jetzt weiß, handelt es sich um einen Pop-Up-Store. Pop-up-Stores schießen wie bunte Pilze aus der Erde, die schnell aufgegessen werden – Pop-up-Stores sind so kurzlebig, dass es zum Verfaulen gar nicht erst kommen kann. Und gerade diese Kurzlebigkeit trägt zu ihrem Erfolg noch bei. Oh my God! Wenn wir da hinwollen, dann müssen wir gleich hin, sofort, wir müssen hinstürzen, sonst verpassen wir das! In der Glamour konnte ich erfahren, dass „Besucher dort alles, was das Foodie-Herz begehrt“ erwarte. Neben dem das Foodie-Herz vollständig Befriedigende gäbe es dort auch noch „Alltagsgegenstände wie etwa Becher, Brotzeitbretter oder Notizbücher im Nutella-Look (zu) kaufen“.
Ich stieg in die nagelneue U4 und wurde philosophisch. Was ist das für eine Welt, in der die Elbphilharmonie neben einem Nutella-Glas-förmigen Café existiert? Was ist das für eine Welt, in der es Nutella-Glas-förmige Notizbücher gibt? Was ist das für eine Welt, in der es Nutella gibt? Damit das Ganze auch Instagram-tauglich wäre, gäbe es natürlich (!) eine Fotowand für Selfies. Ohne Selfie ist man selbst in dieser Welt gar nicht da. Es ist das Selfiemachen ein neuzeitlicher, existentiell wichtiger Vorgang der Selbstvergewisserung.
Als ich auf der Rolltreppe von der Elbphilharmonie hinunterfuhr, kamen mir gegenüber, auf der Rolltreppe, die nach oben fuhr, eine Menge Leute entgegen, die sich mit ihrem Handy filmten, wie sie in der Elbphilharmonie die Rolltreppe nach oben fuhren („Und da sind wir, wie wir in der Elbphilharmonie die Rolltreppe hochfahren“). Sind das dieselben, die ein instragramtaugliches Selfie vor der Nutella-Fotowand machen? Ist das Nutella-Café eine Attraktion wie die Elbphilharmonie, wie Mendelssohn Bartholdy und wie die schmutzige alte Elbe?
Die Firma Ferrero hat im vergangenen Jahr für 2,8 Milliarden Dollar das amerikanische Süßwarengeschäft von Nestlé übernommen. In Brasilien gibt es seit Jahresbeginn bereits mehr als 76.000 Waldbrände. Nutella besteht hauptsächlich aus Zucker und Palmöl. Verursachen wir einen kleinen Regenwaldbrand, wenn wir ein Brot mit Nutella essen? Verursachen wir eine kleine Wasserknappheit, wenn wir Produkte der Firma Nestlé kaufen?
„Was dürfen wir überhaupt noch? Da können wir uns ja gleich umbringen“, mosert ein Mensch in einer Kommentarspalte. Ja, Mensch, das wäre das Beste. Der Mensch ist dem Planeten am abträglichsten. Der Regenwald brennt ab, wir machen mit Selfies kostenlos Werbung für skrupellose Firmen, wir interessieren uns für alles nur noch mit unserer eigenen hässlichen Menschenfresse im Bild davor. Es ist nun mal, wie es ist: Die Welt ist total am Arsch. Wir haben vielleicht noch ein paar ganz gute Jahre mit unseren Foodie-Herzen, fischen uns die letzten Foodies aus der Luft und aus dem Meer, aber unsere verwöhnten Kinder haben es schon schlechter getroffen, der Tisch ist bald auch für uns Europäer nur noch halb gedeckt. Je nun: Wer Opfer heut’ zu bringen scheut, verdient erst seine Bande! (J. W. Goethe/Die erste Walpurgisnacht)
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