Im Osten was Neues

Jahrzehntelang kennzeichneten Massenarbeitslosigkeit und Abwanderung die ostdeutschen Bundesländer. Heute steht die Wirtschaft dort vor anderen Problemen

Von Marco Zschieck

Auf den Autobahnen kann man es jedes Wochenende beobachten: Freitags wird es Richtung Osten voll, Sonntagabend bewegt sich die Blechlawine gen Westen. Dann sind Pendler aus den ostdeutschen Ländern unterwegs, die die Woche über im Westen arbeiten – dort, wo es mehr gut bezahlte Jobs gibt. Mehr als 300.000 sind es. Jahrzehntelang war das Pendeln für viele die einzige Chance auf ein einigermaßen gutes Einkommen. Denn im Osten herrschte gut zwanzig Jahre lang flächendeckend Massenarbeits­losigkeit.

Heute ist das anders. Seit dem Höhepunkt im Jahr 2004 ist die Arbeitslosenquote im Osten von 20,6 auf zuletzt 7,6 Prozent im vergangenen Jahr zurückgegangen. Dennoch bleiben Zweifel, ob der Osten tatsächlich irgendwann zum Westen aufschließen kann. Nur in elf von 29 Jahren seit der Wende wuchs die Wirtschaft im Osten schneller als im Westen.

Problem Fachkräftemangel

Mit den Perspektiven der ostdeutschen Wirtschaft hat sich auch eine Studie des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung in Halle (Saale) befasst. „Es besteht nach wie vor eine Produktivitätslücke zwischen Ost- und Westdeutschland, und zwar in Betrieben aller Größenklassen“, sagt Oliver Holtemöller, einer der Autoren. In ostdeutschen Städten werde pro Arbeitsstunde rund 25 Prozent weniger erwirtschaftet als in westdeutschen.

Holtemöller sieht weitere Probleme auf den Osten zukommen. Zum Beispiel sei die Schul­ab­brecherquote im Osten doppelt so hoch wie im Westen. „Das beeinträchtigt die wirtschaft­liche Entwicklung.“ Auch die Universitäten in den ostdeutschen Flächenländern könnten mit wenigen Ausnahmen im Wettbewerb um Mittel für die Spitzenforschung nicht mithalten.

Auch die in Teilen der Bevölkerung verbreitete Ablehnung von Zuwanderung dürfte nicht gerade hilfreich sein. „Unternehmen investieren dort, wo sie eine langfristige Perspektive sehen“, so Holtemöller. Die Verfügbarkeit von qualifizierten Beschäftigten spiele dabei eine wichtige Rolle. „Die ostdeutsche Bevölkerung altert noch deutlicher als die westdeutsche; ohne qualifizierte Zuwanderung aus Nicht-EU-Ländern werden einfach in Zukunft Arbeitskräfte in Ostdeutschland fehlen.“ Wenn bestehende Unternehmen wachsen wollen, werden sie also auf Zuwanderung angewiesen sein. „Fremdenfeindlichkeit ist da nicht hilfreich.“

Doch Osten ist nicht gleich Osten. Es gibt generell ein Ungleichgewicht zwischen boomenden Großstädten wie Leipzig oder Jena und dem ländlichen Raum. Erstere verzeichnen Zuzug, während die Kleinstädte in der Peripherie weiter Einwohner verlieren.

Wachstum rund um Berlin

Brandenburgs Wirtschaft ist seit einigen Jahren kräftig gewachsen. Die Steuereinnahmen sprudeln. Allerdings gibt es große regionale Ungleichgewichte. Das Wirtschaftswachstum wird fast ausschließlich vom Berliner Speckgürtel getragen. Dort sind es nicht nur gut situierte Zuzügler, die für Nachfrage nach Dienstleistungen sorgen, sondern auch Industrie, die sich vor allem südlich von Berlin angesiedelt hat. Rolls Royce baut Turbinen in Dahlewitz, Daimler LKWs in Ludwigsfelde, dazu kommen Logistiker an den Autobahnen und Bahnstrecken. Der Flughafenkreis Dahme-Spreewald gehört laut einer Bertelsmann-Studie zu den fünf Kreisen mit den höchsten Steuereinnahmen pro Kopf in Deutschland.

Je weiter man sich von Berlin entfernt, umso weniger tut sich wirtschaftlich. In der Lausitz gab es gut bezahlte Arbeitsplätze im Braunkohlebergbau und den Kohlekraftwerken. Angesichts des Kohleausstiegs sucht das Land nun nach Ersatz – sogar das Ministerium für Wissenschaft und Kultur soll aus der Landeshauptstadt Potsdam dorthin verlegt werden.

Das Stadt-Land-Gefälle

Thüringen konnte lange Zeit von seiner zentralen Lage profitieren: Die Wege zu den Arbeitsplätzen im Westen waren kürzer. Die Arbeitslosenquoten waren deshalb etwas niedriger als in anderen ostdeutschen Ländern. Heute haben sich in den größeren Städten entlang der Autobahn A4 wie Eisenach, Erfurt und Jena einige industrielle Zentren gebildet. Die Mieten in Jena gehören zu den höchsten im Osten.

Sachsen hatte von Beginn an auf die Förderung von Zentren gesetzt – die sogenannten Leuchttürme. Mit teils hohen Subventionen wurden Investoren angelockt, in Dresden siedelten sich Halbleiterhersteller wie Infineon und AMD an, in Leipzig das Europäische Drehkreuz des Logistikkonzerns DHL. Gleichzeitig hat sich ein Schwerpunkt in der Automobilindustrie gebildet: VW in Zwickau, BMW und Porsche in Leipzig. Dazu kommen zahlreiche Zulieferer. Doch in der Fläche tat sich in Sachsen weniger.

Immerhin: Neben der Massenarbeitslosigkeit scheint auch die Abwanderung vorerst gestoppt. Seit 2017 gewinnt der Osten wieder Einwohner. Angesichts des Wegzugs von rund 1,3 Millionen Menschen seit der Wende sind die wenigen Tausend, die nun jährlich dazu­kommen, aber überschaubar. Zahlreiche Kommunen versuchen, unter den ehemaligen Landeskindern um Rückkehrer zu werben.

Das Netzwerk „Ankommen in Brandenburg“ hat dazu eine Untersuchung in Auftrag gegeben: Die meisten Rückkehrer entscheiden sich aus familiären Gründen wieder für den Osten und nehmen sogar Gehaltseinbußen in Kauf.