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Archiv-Artikel

Life is life an der Front

Brutal großartige Performance beim „Tanz im August“: Das Stück „Wir sind alle Marlene Dietrich“ führte vor, wie sich die Kunst durch den Krieg korrumpieren lässt

Für die Truppenstärkung missbraucht, missverstanden und manipuliert

Einer spielt den Lichtbringer. Mit sämiger Stimme fordert er das Publikum auf, sich eine Welt ohne Hölle vorzustellen. Eine Welt, die in einem einzigen, unauslöschlichen Moment existiert, ohne Erinnerung, ohne Sehnsucht. „Imagine, imagine“, fordert der Rattenfänger immer wieder, und man beginnt sich zu ekeln vor seinem weichen weißen Hippie-Fleisch. Dann bricht der Impresario ab und überlässt den Club-Animateurinnen die Bühne: Mit Federboa und Headset brüllen sie gute Laune herbei – wie die Spice Girls in ihren besten Zeiten – und zwingen die Zuschauer, die Arme zu schwenken und aus dem Bauch ein „Haha!“ herauszupressen. Später wird es noch viel Rohes geben: symbolische Erschießungen, Sex ohne Liebe, Finger in Hälsen und blutende Füße in High Heels.

Mit einem großartigen und brutalen Stück haben sich am Wochenende zwei Kompanien beim „Tanz im August“ vorgestellt: Die „Iceland Dance Company“ aus Reykjavík und „Maska Productions“ aus Ljubljana zeigten in den Sophiensälen ihre Gemeinschaftsarbeit „Wir sind alle Marlene Dietrich“. Im Untertitel heißt es „Performance für Soldaten in Friedensmissionen“, und man denkt an Blauhelme im Kosovo und an anderen „Unruheherden“ in der Welt. Die wichtigste thematische Spur ist aber die Truppenunterhaltung im Zweiten Weltkrieg. Sowohl die Nazis als auch die Alliierten bedienten sich der einfachen Psychologie der Primärtriebe: Im Rahmen eines speziellen Kulturprogramms, das seichte Unterhaltung mit erotischen Reizen verband, tingelten viele Stars und Sternchen an die Front, um die Soldaten bei Kriegslaune zu halten.

Der Star des Truppenentertainments war Marlene Dietrich, die es als moralische Pflicht im Kampf gegen Nazi-Deutschland ansah, vor den GIs zu singen. Die „abtrünnige Deutsche“ wurde allerdings auch von Wehrmachtssoldaten verehrt. La Dietrich ist die Kernfigur der Performance der isländischen Choreografin Erna Ómarsdóttir und des slowenischen Theatermachers Emil Hrvatin, die die Positionen von Künstlern, Soldaten und Zuschauern hinterfragt. Ein zehnköpfiges Ensemble aus Tänzern, Musikern und Schauspielern simuliert auf der Bühne den Ernstfall: Der Künstler nimmt Auftrag und Honorar an und setzt sich dem Risiko aus, im Sinne der Truppenstärkung missbraucht, missverstanden und manipuliert zu werden.

Zwei Gruppen unterschiedlicher Herkunft haben sich, sozusagen von den Rändern Europas, für diese Kooperation zusammengetan. Ein Konglomerat international arbeitender Multikünstler, denen eine monothematische Zuordnung nicht mehr gerecht wird. Die beiden künstlerischen Leiter sind keine Unbekannten: Ómarsdóttir arbeitete mit Jan Fabre, Anne Teresa de Keersmaeker und Les Ballets c. de la B. zusammen, Hrvatin forscht als multimedialer Künstler in internationalen Theaterprojekten und gibt die slowenische Theaterzeitschrift Maska heraus.

Ihre Marlene-Dietrich-Erzählung ist zerstückelt, disparat, kontrovers. Immer wieder sprengt sich der Tanz selbst in die Luft, wenn er droht zu schöner Form zu verkommen. Krieg ist nicht schön. Krieg ist Vernichtung. Und das zeigen Ómarsdóttir und Hrvatin auf eindrückliche Weise. Totalausfälle unterbrechen die seichte Darbietung: Das laszive Hüftwackeln, das Lächeln der Girlreihe, die Gute-Laune-Barbarei wird unterbrochen, und dann tanzen die Tänzerinnen und Tänzer unvermittelt um ihr Leben, fallen, stehen auf, um erneut zu fallen, werfen sich mit voller Wucht gegen die bröckelnde Wand, rubbeln manisch an sich herum, stieren irre umher. Vergebung gibt es nicht, dafür Zynismus. Am Ende läuft der Dorfdisko-Hit „Life is life“ in der Düster-Version der slowenischen Kultband Laibach. Die Hölle gibt es doch. JANA SITTNICK