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Archiv-Artikel

Sie strahlen wieder

Die deutsche Leichtathletik wähnt sich nach der Weltmeisterschaft auf dem Weg nach oben – doch die Erfolge von Helsinki haben nicht unbedingt etwas mit den Veränderungen im Verband zu tun

AUS HELSINKI FRANK KETTERER

Es war dann auch in Helsinki der Moment der großen Bilanz gekommen, und Clemens Prokop, der der Präsident ist des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV), zog sie bei einem Tässchen Kaffee – und in aufgeräumter Stimmung. „Wesentlich relaxter als zu Beginn dieser Weltmeisterschaft“ fühle er sich, verkündete der Amtsrichter aus dem bayrischen Kelheim in seinem Schlussplädoyer, und das mit gutem Grund, schließlich sei „die deutsche Leichtathletik auf ihrem Weg ein gutes Stück vorangekommen“ hier bei der WM in Helsinki.

Drei Medaillen hatten die deutschen Athleten vor dem gestrigen Schlusstag schließlich gewonnen, vor allem aber erstmals seit vier Jahren wieder einen Weltmeistertitel, den nämlich durch Diskuswerferin Franka Dietzsch – wer wollte es Prokop da so richtig übel nehmen, dass er ein bisschen die Sonne scheinen ließ inmitten all des finnischen Regens? Zumal der DLV ja auch in der Nationenwertung, in der nicht nur erbsenzählerisch die Medaillen, sondern alle Finalplatzierungen gewertet werden, den Riesensatz von zuletzt Rang 11 auf nun Rang 5 gemacht hat – und das wohlgemerkt, noch bevor Steffi Nerius, gestern Abend die letzte deutsche Medaillenhoffnung, ihren Speer geworfen hatte. „Wir sind besser als letztes Jahr“, stellte entsprechend auch DLV-Sportdirektor Frank Hensel fest. Und Jürgen Mallow, der DLV-Cheftrainer, leitete daraus eilig die Kernbotschaft der DLV-Bilanz ab: „Die Talsohle von Athen ist durchschritten. Das Tief liegt hinter uns.“

Dazu muss man sagen, dass die Olympischen Spiele von Athen in der Tat der absolute Tiefpunkt der deutschen Leichtathletik waren und selbst FrankHensel sagt: „Das darf natürlich kein Maßstab sein.“ Weshalb sich zur differenzierteren Einordnung des in Finnland Vollbrachten durchaus der Vergleich mit der letzten WM 2003 in Paris empfiehlt. Damals hatte der DLV zwar nicht einen Weltmeister hervorgebracht (bei einer Silber- sowie drei Bronzemedaillen), aber immerhin in der geliebten Nationenwertung den ein oder anderen Punkt mehr gesammelt. Zur Erinnerung: Das Ergebnis von Paris wurde seinerzeit als ziemlich desaströs empfunden.

Von solch kleinkarierten Nebensächlichkeiten will man sich die zuletzt so emsig zur Schau gestellte Aufbruchstimmung im DLV freilich nicht kaputtreden lassen. Hensel beharrt vielmehr darauf, dass in Finnland „eine deutlich besser vorbereitete Mannschaft“ an den Start gegangen sei als zuletzt. Für unbedingt erwähnenswert hält er auch den Umstand, dass „viele besser abgeschnitten haben, als das durch die Meldelisten vorhersehbar war“. Das wiederum sei keineswegs Zufall, sondern den verschärften Nominierungskriterien geschuldet. Oder, wie es Cheftrainer Mallow ausdrückte: „Die Auswahl auf der Basis eine erhöhten Leistungsanspruchs hat sich erhöht.“ In den Ergebnislisten habe sich genau das durch eine größere Leistungsstabilität sowie weniger Ausfälle niedergeschlagen.

DLV-Sportdirektor Hensel sieht jedenfalls keinen Grund zur Unzufriedenheit – schon gar nicht bei sich selbst. Schließlich war er, der all die Änderungen maßgeblich auf den Weg gebracht hatte vor einem Jahr, als alles am Boden zerstört war. „Nach Olympia haben wir radikal umstrukturiert“, sagt Hensel. Im personellen Bereich wurden der schon lange in der Kritik stehende Cheftrainer Bernd Schubert sowie der für den Leistungssport zuständige DLV-Vizepräsident Rüdiger Nickel ausgemistet und durch Jürgen Mallow sowie Eike Emrich ersetzt. Wo früher des Öfteren Uneinigkeit das Handeln erschwerte, herrscht nun, so Hensel, eine „Triumvirat-Konstellation“, die eine „inhaltliche Seelenverwandtschaft“ verbindet. Doch nicht nur die „handelnden Personen“ (Hensel) haben sich verändert, auch an der Struktur seiner Förderkader hat der DLV Hand angelegt. Besonders stolz scheint man dabei auf den nach Olympia neu zusammengezimmerten „Top-Team-Kader Peking 2008“ zu sein. Laut Hensel soll es sich dabei um „eine Art Perspektivkader außerhalb der typischen Kaderstruktur“ handeln, damit angedacht ist eine Art Rundumversorgung in erster Linie für jüngere Athleten.

Das mag ein durchaus löbliches Ansinnen sein, bei allen Athleten angekommen scheint dieses jedoch nicht. Dass hier in Helsinki vor allem die älteren Sportler für positive Schlagzeilen sowie die Medaillen gesorgt haben, birgt durchaus zusätzlichen Zündstoff. Von den bis gestern drei Medaillengewinnern ist schließlich allein Kugelstoßer Ralf Bartels Mitglied des optimalgeförderten Top-Teams, Diskus-Weltmeisterin Franka Dietzsch (37) sowie Bronzemedaillengewinner Michael Möllenbeck (35) hingegen sind es ebenso wenig wie die Speerwurf-Olympiazweite Steffi Nerius (33; ihr Wettkampf war bei Redaktionsschluss noch nicht beendet) oder Kirsten Bolm (30), die WM-Vierte über 100 m Hürden.

Dass solcherlei bei den betroffenen Athleten für Unmut sorgt, ist nur all zu leicht nachvollziehbar. „Es wird im DLV zu viel Tamtam um die so genannten jungen Wilden gemacht“, wettert prompt Kirsten Bolm, „aber wir sollten mal schauen, wer hier die Kastanien aus dem Feuer holt.“ Die Junioren-Weltmeisterin von 1994 schied im olympischen Halbfinale von Athen verletzungsbedingt aus – und damit auch aus dem A-Kader; seitdem genießt sie nur noch eine Förderung der zweiten Klasse. Nicht viel anders ist es Franka Dietzsch ergangen, der Weltmeisterin, die bei den letzten Großereignissen (WM und Olympia) jeweils in der Qualifikation hängen geblieben war. „Man hat uns abgeschrieben“, schimpft Dieter Kollark, Dietzschs Trainer. Er sagt auch: „In das Top-Team sollte man jene Athleten reintun, die in Peking eine Medaillenchance haben.“ Natürlich meint er zuvörderst Franka Dietzsch damit, trotz ihrer 37 Jahre.

Die Diskussion darüber wird weitergehen, auch über diese WM hinaus. Fest steht derweil: Die Erfolge von Helsinki sind keineswegs schon das Ergebnis einer verbesserten Verbandsarbeit oder gar der viel gerühmten Strukturreform, sondern sind in erster Linie der Eigeninitiative der jeweiligen Athleten geschuldet. Der DLV sollte sich ihre Medaillen nicht zu sehr ans Revers heften.