mail aus manila
: Wirklichkeit als Ware

Die Szenen, die man von einer der zahlreichen Emporen beobachten kann, würde man in Deutschland für Massenpanik halten

Ein sehr junger Verkäufer steht auf einer hohen Leiter. Eine der Deckenplatten ist zu Seite geschoben, ein riesiges Bündel Kabel hängt wie Eingeweide herab, und der sehr junge Verkäufer fummelt mit einem Schraubenzieher in dem Knäuel herum. Ab und zu schwingt das Bündel beängstigend hin und her, dann flackert das Licht auf der ganzen Kaufhausetage. Das Gemurmel der Kundschaft, die sich unter ihm hin und her schiebt, wird kurz etwas lauter. Es ist ein unwirklicher Moment, wenn das kalte Neonlicht wieder seine alte Stärke erreicht hat. Plötzlich fällt mir wieder auf, wie bizarr das hier alles ist – wie das Flackern in den „Matrix“-Filmen, wenn die Cyberwirklichkeit sich durch einen Glitch im Programm kurz in ihre Pixelbestandteile auflöst, bevor alles weitergeht wie vorher.

Ich bin bei SM North Avenue, einer der größten Shopping Malls von Manila. So weit das Auge reicht, sieht man nichts als Regalreihen, in denen sich Küchengeräte, Besteck, Kinderschuhe, Spielzeug, Stereokomponeten, Kosmetika stapelt. Die Wände des Kaufhauses kann man von hier aus nicht erkennen, die Regale scheinen ewig weiterzugehen. Neben jedem Regal steht eine Verkäuferin in einer gelben Uniform, und wenn man sich einer von ihnen nähert, verbeugt sie sich: „Good afternoon, Sir.“ Wenn man schnell durch die Gänge geht und eine Verkäuferin nach der anderen in der Mitte ihres Körpers einknickt, kommt man sich vor, als wäre man ein starker Windstoß, der die Bäume in einem Wald zum Schwanken bringt.

Die Shopping Malls in Manila sind zu einem Ersatz für den öffentlichen Raum geworden. Draußen steht die Hitze über ungepflasterten Bürgersteigen und verstopften Straßen aus weichem Teer, die Luft ist smoggeschwängert. Hier drin ist die Luft klimaanlagenkühl, der Boden ist mit Platten aus Marmorimitat belegt, und kein Straßenhändler im Unterhemd steht plötzlich vor einem, um seine Waren anzupreisen. Kein Wunder, dass die Manilenos lieber hier herkommen als draußen spazieren zu gehen. Hier kann man mit Pumps laufen, ohne mit den Absätzen im Boden stecken zu bleiben, und man kann einen Kinderwagen schieben, ohne Angst zu haben, dass er gleich in einem Loch im Bürgersteig verschwindet, in dem das Abwasser gurgelt.

Die meisten Kunden sehen aus, als hätten sie sich für einen Sonntagsausflug herausgeputzt. Am Eingang lassen sie sich willig von uniformierten Wachleuten in ihre Taschen sehen. Die Wachen haben Revolver in einem Halfter am Gürtel, einen Schlagstock und eine Tasche mit Verbandszeug. Wenn sie merken, dass man es eilig hat, dann klopfen sie einem nur kurz an eine Stelle am Rücken über dem Hosenbund, wo eine Waffe stecken könnte, sagen „Thank you, Sir“ und verzichten auf den Blick in den Rucksack.

Die Szenen, die man beobachten kann, wenn man von einer der zahlreichen Emporen auf die Gänge hinab sieht, würde man in Deutschland für eine Massenpanik halten. Menschentrauben drängen sich um die Rolltreppen oder schieben sich an den Läden vorbei. In anderen Ländern würde die Mall gegen Mittag wegen Überfüllung geschlossen. Bei SM drängen sich immer weitere Menschenmassen von den riesigen Parkplätzen durch die Glastüren. Wenn die Mall um neun Uhr schließt, kommt auf der North Avenue der Verkehr für eine halbe Stunde mehr oder weniger zum Erliegen.

Die Läden? Boutiquen, in denen die Kleider fünf Euro kosten, Videotheken mit Raubkopien von Filmen, die hier noch einmal angelaufen sind. „Skin Clinics“, in denen man für vier Euro zwei Stunden lang das Gesicht gereinigt bekommt. In den Ecken stehen Karaoke-Automaten, davor meist jemand mit Mikrofon in der Hand, der allein vor sich hin singt. Weil nicht alle Philippinos Gesangstalente sind, werden die leiernden Stimmen mit kräftigem Echo unterlegt. Diesen Trick haben in den Achtzigerjahren auch die stimmlich eingeschränkten Sänger einiger New Wave Bands eingesetzt. Videoke klingt deshalb oft, als würde Joy Division einen der furchtbaren Softrock-Hits spielen, die bei den Philippinos so beliebt sind.

Die Mall ist ohrenbetäubend laut. Mit der Lautstärke eines Düsenjets wird man mit Schnulzen beschallt. Verkaufsgespräche müssen im Brüllton geführt werden. An jeder Ecke machen Verkäuferinnen mit Rasseln, Klingeln und Glocken auf ihre Stände aufmerksam. Vielleicht sollte ich das Lärmchaos einfach als eine gigantische Zufallskomposition genießen, nach dem Vorbild von John Cage? Das funktioniert zunächst. Das Dauergequassel aus der Bingohalle klingt plötzlich wie abstrakter Rap, das digitale Geballer aus der Spielhalle wie ein Technostück in der Notaufnahme. Aber dann dröhnt aus einer Boutique Whitney Houstons „I’ll always love you“ mit der Phonstärke einer explodierenden Tellermine. Das wäre wohl auch John Cage zu viel gewesen.

TILMAN BAUMGÄRTEL