IMMER, WENN EIN NEUER WOODY ALLEN IN DIE KINOS KOMMT
: Dringlich vermisst: der Großstadtneurotiker

VON DIRK KNIPPHALS

Zwei Einsichten hat mir Woody Allen, glaube ich, für mein Leben sehr folgenreich eingepflanzt. Erstens, dass ein humorvoll-selbstironischer Umgang mit Lebenskrisen viel interessanter ist, als über sie wirklich zu verzweifeln. Zweitens, dass es Spaß bringen kann, im Zentrum einer großen Stadt zu wohnen. Das wusste man ja lange Zeit in Deutschland gar nicht. Man zog raus in die Vororte. Man baute Satellitenstädte. Bis Woody Allen kam und die große Stadt zum Ort des intensiven Lebens verklärte. Wahrscheinlich war seine Entscheidung, Gershwin-Musik über Hochhauskulissen zu legen, für die Entwicklung des Lebens im Westens – und letztlich auch meines Lebens – genauso wichtig wie die Erfindung der Antibabypille. Nur so als Maßstab.

Immer wenn ein neuer Woody Allen in die Kinos kommt (so wie jetzt „To Rome with Love“) fallen mir diese Zusammenhänge zuverlässig wieder ein. Oft leihe ich mir dann, zusätzlich zum Besuch des neuen Films, einen seiner Klassiker in der Videothek aus, schaue ihn mir zu Hause auf dem Sofa an, gehe danach raus auf die Straße – und manchmal sieht dabei dann das Viertel, in dem ich wohne, irgendwie verzaubert aus.

Ein junges türkisches Paar, das nachts auf dem Winterfeldtplatz auf einer Bank sitzt und knutscht: Das könnte einen Bildhintergrund aus „Manhattan“ abgeben. Dieser großstädtische Blick von der Monumentenstraße aus in Richtung Potsdamer Platz: Da könnte Woody himself mit zerzausten Haaren vorbeilaufen und mit Gott und der Welt hadern. Die unangestrengte Kultiviertheit hinter den Fenstern der besseren Restaurants Schönebergs: Vermittelt das nicht manchmal einen ähnlich urbanen Lebensstil, wie es die festlichen Familientafeln in „Hannah und ihre Schwestern“ getan haben?

In solchen Momenten frage ich mich dann gelegentlich, warum eigentlich niemand Lust hat, Woodys Figur des Großstadtneurotikers fortzuführen – des Jedermannmenschen, der von den Phänomenen der Großstadt (Verkehr, Menschenschlangen, schlechte Bäcker) genervt, aber noch viel mehr in das urbane Leben verliebt ist. Ich meine, was ist gegen die Spannung solcher inneren Ambivalenzen schon die durch Außenblicke definierte Figur des Hipsters, selbst wenn sie noch so angesagt ist!

In Peter Fox’ Lied „Von Schwarz zu Blau“ ist dieser Wille zur Großstadtverklärung da. Aber Fox folgt auch wieder der letztlich dunklen Erzählung vom einsamen Reiter in der Großstadtwüste. In der „Herr Lehmann“-Trilogie von Sven Regener konnte man auch einiges über das wilde Leben mit all seinen Krisen in den Innenstädten nachlesen – aber alles in allem in einer abgedimmten, keine große Erzählung behauptenden Variante.

Es ist wirklich sehr seltsam: Aber eine aktuelle Erzählung, ob nun als Roman oder Film, die ein heutiges Lebensgefühl vom Leben in der Großstadt enthielte – gibt es so etwas eigentlich? Was es gibt, sind wehmütige Abschiede von der eigenen Jugend an den angesagten Tresen Berlins. Und das sind Reprisen auf Döblins „Berlin Alexanderplatz“, in denen geschickt das Wort „prekär“ platziert wurde. Die Lehre, die Woody Allen einem Autor dagegen vermitteln könnte, wäre: Zur Not muss man sich eine neue Großstadterzählung eben selbst erfinden. Es muss ja nicht bei Gershwin bleiben.