: Emmas Enkel bei Tante Ver.di
Krise als Chance: Mit der Schlecker-Pleite hat die Gewerkschaft Ver.di neue Themen und Partner entdeckt: die Nahversorgung der Dörfer und die Konsumenten. Kunden und Beschäftigte könnten an einem Strang ziehen
von Hermann G. Abmayr
Aus ehemaligen Schlecker-Filialen sollen Bürgerläden werden. Das hat man sich bei Ver.di ausgedacht und das ist neu. Die Schlecker-Frauen sollen dort eine Anstellung finden, die Kunden eine Einkaufsmöglichkeit, und auch die Bürgermeister auf den Dörfern sind zufrieden. Ziel ist eine genossenschaftliche Lösung, damit sich auch viele Kunden beteiligen können. Beginnen will Ver.di mit diesem Projekt in der Nähe von Stuttgart, und zwar in den Orten Murr, Erdmannhausen und Bietigheim-Buch. Kunden und Beschäftigte könnten an einem Strang ziehen. So die Hoffnung der Gewerkschaft.
Das kommt spät, vielleicht zu spät. Aber es sind neue Töne. Als die Deutsche Post AG ihre Briefkästen abmontiert und ihre Filialen nach und nach geschlossen hatte, gab es diese Zusammenarbeit noch nicht. Damals haben die Bürger vor Ort Unterschriften gesammelt, um die Nahversorgung zu verteidigen. Als die gleiche Post bei den Beschäftigten mit radikalen Sparprogrammen Kasse machen wollte, protestierten deren Interessenvertreter. Dass beides etwas miteinander zu tun hatte, nahmen nur wenige Menschen wahr. Und dass die Unternehmenspolitik der einstmals staatlichen Post nur noch ein Ziel hatte, die Gewinnmaximierung, blieb ebenso nahezu unwidersprochen. Die Verlierer waren und sind die Kunden und die Beschäftigten.
Ähnlich verlief die Diskussion bei der Privatisierung der Wasser-, Strom und Gasversorgung. Viele Kommunen haben sie verscherbelt – häufig, wie in Stuttgart, mit den Stimmen von Schwarz, Rot und Grün. Und nicht selten in die USA. Cross-Border-Leasing nannte man diese Art von Ausverkauf öffentlicher Güter.
Vielen Orten fehlt die gesamte Infrastruktur
Es war die Zeit des neoliberalen Durchmarsches. Dienstleistungen sollten nicht mehr dem Bürger dienen, sondern Investoren. Und der Begriff „öffentliche Daseinsvorsorge“ wurde zum Unwort. Schließlich ging es nicht mehr um das Wohl der Bürgerinnen und Bürger, oder gar derer, die weniger mobil sind oder in abgelegenen Gegenden wohnen. Nein, es ging um das Wohl der „Investoren“ und ihrer Geldgeber, den Banken.
Mittlerweile gibt es Ortschaften, denen fast die gesamte Infrastruktur fehlt: Die Postfiliale, der Briefkasten, der Bahnanschluss samt Bahnhof, die Bankfiliale, der örtliche Metzger, der kleine und manchmal auch der große Supermarkt und zuletzt sogar der oft schon seit Jahrzehnten ansässige Schlecker-Drogeriemarkt. Der war meist klein, aber in zentraler Lage. Ein Netz von vielen tausend Filialen. Anton Schlecker war damit wohl der letzte große Nahversorger der Republik. Müssen wir ihm jetzt also ein Denkmal bauen?
Mitnichten, denn der einstige Milliardär hatte nichts begriffen: Weder wie man ein Unternehmen erfolgreich führt, noch wie man auf Kunden zugeht oder wie man mit Beschäftigten umgeht. Und erst recht nicht, welchen Vorteil die Nahversorgung hätte haben können, wenn man sie als Chance begriffen hätte. Denn die Politik hatte sich von „Tante Emma“ längst verabschiedet. Immer größer, immer schneller und immer billiger hieß die Devise der meisten Großkonzerne. Politiker hatten dem selten etwas entgegengesetzt.
Jetzt rufen die Bürgermeister reihenweise im Stuttgarter Gewerkschaftshaus an und fragen, wie sie nach der Schlecker-Pleite noch retten können, was zu retten ist. Auch viele Kunden fragten die Verkäuferinnen schon in den Wochen vor der Schließung der Schlecker-Läden, wie sie helfen könnten. Zum Teil aus Verbundenheit mit den häufig ortansässigen und langjährigen Schlecker-Frauen. Aber immer auch wegen der fehlenden ortsnahen Versorgung.
So mancher Bürgermeister befürchtet nämlich einen Dominoeffekt. Nach dem Wegfall der Schlecker-Filiale könnten auch der benachbarte Bäcker, Metzger oder Gemüseladen die Ladentüre schließen. Denn wenn die Kunden einmal in den nächsten großen Supermarkt fahren, dann bekommen sie dort alle Produkte des täglichen Bedarfs. Und dies oft billiger – zumindest, wenn man die Fahrtkosten und den Zeitaufwand nicht berechnet.
Ver.di hatte mitten in der Sommerpause nach Stuttgart zu einer Pressekonferenz eingeladen, bei der genau diese Fragen thematisiert wurden. Und die Gewerkschaft hatte den Mut, Leute aufs Podium zu holen, mit denen sie bisher nichts zu tun hatte: den Vorsitzenden des Bundesverbandes der Regionalbewegung Heiner Sindel, den auf Nahversorgungsläden spezialisierten Unternehmensberater Wolfgang Gröll und Benjamin Brüser, einen der Gründer von Emmas-Enkel.de, der das Tante-Emma-Prinzip mit den Möglichkeiten der Internets verknüpft.
Zwar hat die Politik die Nahversorgung, die Belebung der Stadtteile oder der Dörfer zumindest in Sonntagsreden wieder auf die Tagesordnung gesetzt. Grüne Politiker plädieren schon aus ökologischen Gründen – weniger Autoverkehr – für kurze Wege. Und die Schwarzen und Roten unterstützen diese Forderung spätestens dann, wenn sie Wahlprogramme schreiben. Allein ernst genommen hat dies kaum ein Abgeordneter. Denn ob unter Rot-Grün, Schwarz-Rot oder Schwarz-Gelb, Gewinner waren in den vergangenen zwanzig Jahren fast immer große Dienstleister. Die kleineren und mittelgroßen Geschäfte, diejenigen, die vor Ort groß geworden sind, wurden verdrängt oder in die Pleite getrieben. Schlecker blieb ein Sonderfall.
Schutzschirme nicht nur für Banken
Doch der Fall der einst größten Drogeriemarktkette hätte der Politik jetzt die einmalige Chance gegeben, nicht nur für marode Banken milliardenschwere Schutzschirme aufzuspannen. Die Bundeskanzlerin Angela Merkel und ihre Arbeitsministerin hätten sich auch für mehrere 100.000 Schlecker-Kundinnen interessieren können, die ortsnah versorgt werden wollen. Und für 30.000 Schlecker-Verkäuferinnen, die nicht arbeitslos werden wollen. Doch diese Bürgerinnen – es sind fast nur Frauen – sind nicht „systemrelevant“ wie die Banken. Sie sind nicht einmal eine Bürgschaft in Höhe von 70 Millionen Euro wert. Diese Summe hätte Insolvenzverwalter Arndt Geiwitz benötigt, um für einen Teil der Schlecker-Frauen eine Transfergesellschaft zu finanzieren.
Die Betroffenen wären damit nicht sofort arbeitslos gewesen, hätten eine besondere Qualifizierung erhalten und dafür auf Klagen gegen ihre Kündigung verzichten müssen. Geiwitz hätte damit gute Chancen gehabt, profitablere Schlecker-Filialen weiterzuführen und später zu verkaufen oder an Genossenschaften zu übergeben. Weder die Bundes- noch eine Landesregierung waren bereit, dafür eine Bürgschaft zu geben. Auch nicht die Länder, die ohne FDP regieren. Selbst für die Landesregierung in Baden-Württemberg, dem Sitz von Schlecker, wäre es ein Leichtes gewesen, die gesamte Summe als Bürgschaft zur Verfügung zu stellen. Grün-Rot versteckte sich lieber hinter der bayerischen FPD, die eine Beteiligung an der Bürgschaft ablehnte, weil die Schlecker-Frauen und die Schlecker-Kundinnen nicht zu ihrer Klientel gehören.
Nicht einmal nach dem endgültigen Aus von Schlecker wagen es die grün-roten Machthaber in Baden-Württemberg, sich offen und öffentlichkeitswirksam für ein Konzept von Nahversorgungsläden in ehemaligen Schlecker-Filialen einzusetzen. Doch immerhin gibt es Gespräche mit der Gewerkschaft auf der Ebene von Sachbearbeitern verschiedener Ministerien. Andere Bundesländer haben sich von dem Thema ganz verabschiedet, obwohl es auch dort Initiativen zur Fortführung einiger Filialen unter anderem Namen gibt.
Die Krise ist noch längst nicht überwunden
Ver.di wird also dicke Bretter bohren müssen. Doch die Zeit ist günstig. Rekommunalisierung ist angesagt. Die neoliberalen Dogmen haben seit der 2008 beginnenden Bankenkrise in der Bevölkerung nur noch wenig Rückhalt. Bisher fehlen neue Konzepte. Deshalb ist der Denkanstoß, den Ver.di jetzt in der Schlecker-Auseinandersetzung gegeben hat, weit über den Fall hinaus von Bedeutung. Denn die Namen weiterer Krisen-Konzerne kursieren bereits. Und die Krise, die in Deutschland von einem Zwischenhoch unterbrochen wurde, ist noch längst nicht überwunden.
Mit traditioneller Tarifpolitik, so erfolgreich Ver.di dabei zuletzt bei Schlecker war, können die Gewerkschaften in diesen Fällen nichts ausrichten. Und staatsanwaltschaftliche Ermittlungen, so nötig sie sind, dienen bestenfalls der Aufarbeitung der Vergangenheit. Gefragt sind neue Modelle des Wirtschaftens, Modelle, die von den Interessen der Beschäftigten und der Konsumenten ausgehen. Und diese Modelle sollten auch beide Gruppen – sie stellen immerhin die große Mehrheit der Bevölkerung – gemeinsam entwickeln. Das schlug Leni Breymaier vor. Nahversorgungsläden könnten nur erfolgreich sein, sagte die Landesbezirksleiterin in Baden-Württemberg, wenn die jeweilige Bevölkerung und die Kommune sie unterstützten.
Leni Breymaier hat damit auch die Lehren aus dem Desaster der gewerkschaftlichen Genossenschaftsbewegung in Deutschland gezogen. Ob Coop oder Neue Heimat, die einstigen Basisinitiativen waren zwar eine Zeit lang sehr erfolgreich, doch dann haben sie sich von ihrer Basis weit entfernt und wurden zu Großkonzernen. Schließlich stürzten Coop und Co. in den 80er-Jahren ähnlich schlimm ab wie heute Schlecker.
Doch Genossenschaften müssen nicht automatisch scheitern. Montragón, die größte Genossenschaft der Welt und das siebtgrößte Unternehmen Spaniens, ist seit vielen Jahrzehnten erfolgreich. Das Führungspersonal verdient dort maximal das Achtfache des Arbeiterlohns. Auch in Island haben Genossenschaften immer noch einen sehr großen Einfluss. Es lohnt sich, darüber nachzudenken. Ver.di hat dazu einen Anstoß gegeben.