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Archiv-Artikel

„Der Westen kann viel von China lernen“

CHINA-BUCHMESSE Der Dissident und Verleger Bei Ling wirft der Buchmessen-Leitung Naivität vor und fordert vom Westen einen Dialog auf Augenhöhe mit China

Bei Ling

■ Der Schriftsteller: Bei Ling, 49, ist Gründer des unabhängigen chinesischen PEN-Clubs sowie des Verlags „Qing Xiang“ („Tendenz“) und lebt in den USA. Er hat seit 2003 über 20 Bücher auf Chinesisch herausgegeben, zu denen auch Bücher des ehemaligen tschechischen Präsidenten Václav Havel und des Dichters Paul Celan zählen. Noch vor den Studentenrevolten im Jahr 1989 ging Bei Ling in die USA. Sein 1992 gegründetes und inzwischen wieder eingestelltes Magazin Qing Xiang stand dem Regime der Kommunistischen Partei Chinas sehr kritisch gegenüber. 2000 wurde er bei seiner Rückkehr aus den USA in China verhaftet. Aufgrund des internationalen Drucks wurde er nach einmonatiger Haft freigelassen und in die USA abgeschoben, wo er inzwischen auch die US-Staatsbürgerschaft besitzt.

■ Der Eklat: Bei Ling und die Schriftstellerin und Umweltaktivisten Dai Qing wurden von der Buchmessen-Leitung zunächst zu einem China-Symposium im Vorfeld der Messe als Redner eingeladen. Und wurden auf Druck Pekings zunächst von der Buchmessen-Leitung wieder ausgeladen. Beide reisten an. Und nach öffentlichem Druck sollten Bei Ling und Dai Qing zumindest als Gäste beim Symposium auch zuhören dürfen. Als beide zu einem Statement aufgerufen wurden, verließ ein Großteil der offiziellen chinesischen Delegation zeitweise den Saal.

INTERVIEW JOST WÜBBEKE UND VIVIANE FLUCK

taz: Herr Bei Ling, während der Westen von China mehr freiheitliche Menschenrechte einfordert, stützt sich China auf seine Definition von sozialen Menschenrechten. Was halten Sie von diesen unterschiedlichen Sichtweisen?

Bei Ling: Diese beiden Standpunkte können nicht voneinander getrennt werden.

Warum nicht?

Wenn die Europäer die chinesische Perspektive ablehnen, so müssen sie doch Chinas Fortschritte in diesem Bereich berücksichtigen. Der springende Punkt aber ist, dass China sich nicht mehr mit grundlegenden Fragen der Existenz wie Hunger beschäftigen muss. Was wir heute brauchen, sind die westlichen Menschenrechte wie freie Meinungsäußerung, Pressefreiheit und Publikationsfreiheit. Ihre Einführung darf nicht verzögert werden.

Wie belastet denn die Menschenrechtsfrage die Beziehungen zwischen China und dem Westen?

Eine zentrale Ursache für die Kontroverse zwischen China und dem Westen ist die Tatsache, wie China in die westliche Welt eintreten will. Die Chinesen wollen Einfluss auf den Westen ausüben. Sie vergessen aber, dass der Westen einige Forderungen stellt. Wenn China die Forderungen des Westens akzeptieren würde, könnte es nach diesen Kriterien auch den Westen selbst kritisieren. Das wäre ein riesiger Fortschritt für China. Beide Seiten sollten bereit sein, einander zuzuhören und sich aufeinander zuzubewegen. Natürlich soll der Westen nicht nur Veränderung von China verlangen, aber China soll auch nicht sagen, der Westen würde absichtlich Provokation suchen.

Glauben Sie, dass es in den nächsten Jahren in dieser Hinsicht einen Wandel in China geben wird?

Wir können durchaus einige Fortschritte beobachten, aber sie gehen häufig viel zu langsam voran.

Zum Beispiel?

In chinesischen Gefängnissen werden Inhaftierte immer noch zusammengeschlagen. Festgenommene Personen können immer noch lange Zeit ohne Verurteilung festgehalten werden. Es ist besser geworden, aber in China geht es immer vor und zurück: mal ein Schritt vor, einen zurück und wieder ein wenig nach vorne. Wenn China ein Teil der Welt sein will und seine Stärke entfalten will, dann muss deutlich werden, dass es sich in vielen Punkten an die Vorstellungen des Westens annähern muss.

Was denken Sie über das Verhalten des Buchmessen-Direktors Juergen Boos, der Sie zu einem China-Symposium vor drei Wochen erst ein- und auf Druck der chinesischen Regierung wieder ausgeladen hat? Das führte zum Eklat.

Ich denke, es fehlt ihm ein wenig die Erfahrung, wie man mit einer Supermacht umgeht. Und es handelt sich hierbei noch um eine autokratische Supermacht. Ohne Erfahrung wusste er nicht, dass er im Umgang mit China in einigen Bereichen hart bleiben sollte. Er oder seine Mitarbeiter aber sind eingeknickt. Deshalb ist der Skandal vor drei Wochen passiert.

Und jetzt ist alles wieder gut?

Er hat seine Lehren daraus gezogen und uns Dissidenten eingeladen, an der Eröffnungszeremonie teilzunehmen. Er beabsichtige, uns einen öffentlichen Raum zu geben, um mit der chinesischen Delegation zu diskutieren. Es ist aber immer noch unmöglich, dass wir in einem Konferenz-Panel mit Mitgliedern der chinesischen Delegation sind. Sie wollten uns letztes Mal in ein Panel mit offiziellen Autoren bringen, die aber lehnten das ab. Wir Dissidenten haben also unser Panel, die offiziellen Dissidenten haben ihr Panel. So kommen wir miteinander nicht in Kontakt, lernen nicht voneinander und diskutieren nicht miteinander. Insofern ist die Buchmesse nicht erfolgreich.

Welchen Beitrag kann die Buchmesse überhaupt zur Verständigung zwischen China und dem Westen beitragen?

Sie kann auf jeden Fall dazu beitragen, weil China dadurch mit dem Westen in Kontakt kommt. Mehr als 1.000 chinesische Herausgeber, Manager und Autoren reisen nach Deutschland und können sich hier von der ausländischen Literatur überzeugen. In China sind alle Verlage in staatlicher Hand, aber im Ausland sind alle Verlage privat. Sie werden darüber nachdenken: Warum ist das so? Ohne die Buchmesse würden sie ihre Sicht nicht erweitern und nach draußen schauen können. Sie bringt die Chinesen mit der internationalen Gesellschaft zusammen. Sie werden sehen, wie die vielleicht 6.000 privaten Verleger sehr gut überleben können und frei von Zensur sind. Darüber müssen sie nachdenken.

Welche Unterstützung können sie von westlichen Intellektuellen erwarten?

Wir brauchen Intellektuelle, die nicht nur auf das Äußere Chinas schauen, so wie Medien über China sprechen. Sie selbst müssen sich mit dem Inneren Chinas beschäftigen. Sie müssen mehr lesen und mehr in Erfahrung bringen über China. Nicht nur über die reichen Leute, sondern vor allem die einfachen. Sie können sich mit der chinesischen Kultur beschäftigen, der neuen Generation von chinesischen Intellektuellen, Leuten mit Abschlüssen aus Amerika oder London.

Sie unterstellen hier eine Überheblichkeit?

Die Chinesen wollen auf einer Augenhöhe mit dem Westen sprechen. Es geht nicht darum, dass der Westen nur China belehrt oder andersherum. Wir müssen eingehender miteinander reden. Wir sollten miteinander reden, nicht nur der Westen mit der Volksrepublik, sondern auch die Großzahl von Exilchinesen. In Taiwan und Hongkong gibt es viele Intellektuelle, die ein Wort mitzureden haben. Aber auch deutsche Intellektuelle sind ja auf der Buchmesse präsent. Denken Sie nur an die Nobelpreisgewinnerin Herta Müller. Sie kennt sich mit kommunistischer Herrschaft sehr, sehr gut aus. China ist natürlich anders als die Sowjetunion oder das kommunistische Rumänien, denn einiges hat sich geändert. Aber wir haben noch immer Propaganda, keine Meinungsfreiheit, keine Verlagsfreiheit, Zensur und Selbstzensur.

Was kann denn der Westen von China lernen?

Der Westen kann sehr viel von China lernen. Erstens ist die chinesische Kultur sehr reichhaltig, so zum Beispiel die Lehren des Konfuzius oder die Dynamik der chinesischen Kunst und Literatur der Gegenwart. Von ihrer Bereitschaft für Veränderung kann sich der Westen einiges abschauen.

Und zweitens?

Zweitens kann der Westen von China noch etwas anderes lernen. Die Chinesen verwenden jedes Jahr viel Zeit für die Übersetzung ausländischer Bücher. Ihre Zahl übersteigt bei weitem die Übersetzungen vom Chinesischen in westliche Sprachen. China setzt sehr viel daran, ausländische Bücher zu übersetzen, mehrere tausend pro Jahr. Dieses Jahr ist es vielleicht eine Ausnahme, dass der Westen wesentlich mehr chinesische Werke übersetzt hat. Ich lese sehr viele übersetzte Bücher, ohne sie könnte ich selbst nicht schreiben.

Wie Sie wissen, hat China auf dem Human Development Index der Vereinten Nationen einen großen Sprung nach vorn gemacht. Manche Kritiker sagen, es habe sich aber insgesamt nichts verändert. Wie beurteilen Sie das?

Natürlich gibt es in China in einigen Bereichen einen großen Wandel. Man kann nicht sagen, es sei alles gleich geblieben.

Aber?

Es ist nicht so einfach, denn wissen Sie, die Verantwortung der Literatur und der Intellektuellen ist es, die Komplexität der Welt hervortreten zu lassen. Eine Situation hat immer sehr viele Seiten. Man kann nie einfach sagen, dass etwas ganz falsch oder ganz richtig sei. Vielleicht machen manche es so, weil sie Kämpfer sind. Ich bin auch ein Kämpfer, aber an erster Stelle bin ich immer noch ein Schriftsteller.