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Archiv-Artikel

Apathische Wirtschaftssubjekte

Political Studies (VII): Die politische Steuerung wirtschaftlicher Prozesse, das ist das große Projekt der Sozialdemokratie – entgegen dem ersten Anschein auch noch unter Schröder. Nur zeitigt des Projekt andere Folgen, als der Kanzler erwartet hatte

■ Wie immer die Neuwahlen ausgehen – auf dem weiten Feld zwischen Politik und Leben hat sich etwas verschoben. Was kann Politik, was soll sie können, was nicht? In unserer Serie „Political Studies“ überlegen AutorInnen, welche Rolle Politik in ihrem Leben spielt, ob die offizielle Politik das Politische noch repräsentiert

VON FELIX KLOPOTEK

Bei der Bundestagswahl vor sieben Jahren erlebte die Mitte-rechts-Regierung ein bis dahin einmaliges Debakel: Sie wurde abgewählt. Die SPD avancierte erstmals seit einem Vierteljahrhundert zur stärksten Partei, die PDS übersprang die Fünfprozenthürde. Ein Linksruck, von dem schon kurz nach der Wahl kaum einer mehr sprach, am wenigsten die neue Regierung. Man mag das als Ursünde der rot-grünen Koalition verstehen – warum hat sie versäumt, die geistig-moralische Wende Kohls mit einem eigenen Großprojekt zu kontern? Hätte nicht ein Großprojekt dafür sorgen können, dass diejenigen, die in den letzten zwei Jahren vor lauter Frust gar nicht mehr wählen gegangen waren, bei der Stange geblieben wären, weil sie die Aussicht gehabt hätten, dass auf langer Sicht vielleicht doch alles gut wird?

Sicher, es gab das Konstrukt der Neuen Mitte, und die linken Kritiker der Regierung haben ihr sehr früh unterstellt, dies sei das Großprojekt: Neoliberalismus im Gewande sozialdemokratischer Gerechtigkeitsrhetorik, kompensiert durch grünen Hedonismus und ein wenig Bürgerrechtspolitik. Das hätte die Neue Mitte repräsentieren sollen. Aber sie hat gar nichts repräsentiert. Die Neue Mitte war kein Projekt, sondern ein Phantom, schon vor dem 11. September galt der Begriff als lächerlich. Neue Mitte – dieses Konstrukt war semantisch so sehr mit der New Economy verschweißt, dass es mit deren Untergang verschwand.

Schon wieder eine vergebene Chance, mag der Melancholiker denken (und als Schröder die Agenda 2010 verkündete, war da nichts zum Kompensieren – keine Wende, kein Ruck, keine Neue Mitte, keine Zivilgesellschaft). Aber wer das Scheitern von Rot-Grün vor allem auf schlampiges Regierungshandwerk und miserables Kommunikationsdesign schiebt, verkennt, dass es tatsächlich ein Großprojekt gibt. Und dass es nicht gescheitert ist, sondern bloß andere Folgen zeitigt, als Schröder und die seinen sich das gedacht haben. Worin besteht das Projekt? Kurz gesagt in der Politisierung der Ökonomie und in der Ökonomisierung der Politik. Das hört sich banal an, aber vielleicht nur, weil diese gegenseitige Durchdringung so alltäglich geworden ist. Zum Vergleich: Den Konservativen ging (und geht) es um Werte, um die Anerkennung, dass es Eliten geben muss, dass die Kirchen dazu da sind, im Privatleben der Gläubigen herumzupfuschen, dass politische Entscheidungen nicht partizipativ gefällt werden können. Der Konservative pocht auf die Trennung von Politik und Wirtschaft – gerade auch, wenn er strikt wirtschaftsliberal ist. Denn als Wirtschaftsliberaler geht er von dem prinzipiellen Gleichgewicht der Märkte aus, gestört wird es nur durch Eingriffe der Politik. Streng genommen bestehen die Einflussnahmen Wirtschaftsliberaler auf die Politik „nur“ in einem Zurückdrängen derselben.

Es reicht ein oberflächlicher Blick auf sieben Jahre Rot-Grün, um die Unterschiede festzuhalten: Peter Hartz, Personalmanager bei VW, wird zum Politstar; Gerhard Schröder rettet das Bauunternehmen Philipp Holzmann; die Ich-AGs sind eine politische Erfindung: der Staat definiert eine neue Wirtschaftsform und erhebt sie zum Lebensentwurf. In diese Aufzählung gehört auch die Neue Mitte. Man kann sie als Betrugsmanöver demaskieren, mit dem Sozialabbau und die Prekarisierung von Arbeitsverhältnissen schön geredet werden sollten. Das greift aber zu kurz. Denn mit der Neuen Mitte gemeint war tatsächlich die Verschmelzung eines angeblich neues Wirtschaftssubjekts, des so genannten Arbeitskraftunternehmers, mit einem angeblich neuen Staatsbürgertypus: links, aber nicht sozialistisch; grün, aber nicht ökologisch; tolerant, aber nicht aufgeklärt.

Früher kannte man noch den Bourgeois, das egoistische Wirtschaftssubjekt, und den Citoyen, den auf das Allgemeinwohl verpflichteten Staatsbürger, die als zwei Seelen in der Brust des modernen Menschen hausten und in dessen Seelenleben für allerlei Zwist sorgten. In der Neuen Mitte kommen nun beide zusammen, friedlich vereint. Oder, als die Neue Mitte nichts mehr taugte, in der Ich-AG. Hegel, der die Entzweiung des Bürgers in Bourgeois und Citoyen sehr genau beobachtete, konnte sich schon eine Versöhnung der sich hassliebenden Brüder vorstellen: in der Form der Soldaten, in der totale Hingabe, die vom Ich ausgeht, mit totaler Unterordnung unter Staatszwecken einhergeht. Wie groß ist der Sprung vom soldatischen Subjekt zum neoliberalen, in dem ebenfalls totale Hingabe (an den Markt, an die Flexibilisierung, an die Medien, den Hedonismus, die Popkultur etc. pp.) mit totaler Unterordnung, diesmal unter die Zwecke des Kapitals (Profitmaximierung), zusammenkommt?

In der Praxis ging das Ganze harmloser, friedlicher und vor allem vergessensseliger voran. Erinnert sich noch jemand an den Fall der T-Aktie? Das war vor drei Jahren, da sackte der Kurs der Aktie unter den Ausgabekurs. Telekom-Chef Ron Sommer musste seinen Hut nehmen, wieder war es der Kanzler, der eingriff.

Die Durchdringung von Wirtschaft und Politik war hier exemplarisch: Der Staat verkaufte die Hälfte der Deutschen Telekom in Form von Aktien. Diese Anteilscheine wurden als so genannte Volksaktien angepriesen, so sicher wie ein Sparbuch, aber um ein Vielfaches ertragreicher. Mit dem Erwerb einer Volksaktie nahm man in verschiedener Weise an einem politischen Prozess teil: Man war an der Umwandlung eines Staatsunternehmens beteiligt, bekundete Risikobereitschaft und gleichzeitig seine Eignung zum modernen, pragmatisch-wirtschaftlich orientierten Handeln. Das Blöde dabei: Eine Aktie ist kein Sparbuch. Wer eine Aktie kauft, verleiht kein Geld an ein Kreditinstitut, sondern erwirbt einen schnöden Rechtstitel auf einen möglichen Anteil an einen möglichen Geschäftserfolg. Zur Absicherung und vorausschauenden Planung des Lebensunterhaltes taugt eine Aktie herzlich wenig. Mehr noch: Der Geschäftserfolg bemisst sich danach, wie erfolgreich sich das Unternehmen in der Konkurrenz durchsetzt. In der Konkurrenz durchsetzen, das heißt vor allem Rationalisierung: Entlassungen, Flexibilisierung, Lohndrückerei. Indem eine Volksaktie ausgerufen wurde, wurden ihre erwünschten Käufer, die Lohnabhängigen, die jede Rationalisierung ausbaden müssen, zu Nutznießern dieser Rationalisierung erklärt. Eine Form von Kannibalismus: Man ermöglicht mit seiner Arbeitslosigkeit eine vielleicht günstige Dividende.

Patient tot, politisches Projekt gerettet. Die politische Steuerung wirtschaftlicher Prozesse unter Absehung einer proletarischen Revolution ist, allerspätestens seit 1918, ein sozialdemokratisches Projekt. Dieses Projekt gab es auch unter Schröder, nicht in kollektivistischer Form betrieben, also nicht in der irrigen, Juso-romantischen Annahme, den Kapitalismus Stück für Stück in einen Sozialismus umzubauen, sondern in mikrostruktureller: mehr Verantwortung für alle, Kapitalisierung kleinster Lebens- und Arbeitseinheiten (Ich-AG), Konkurrenzdruck auch für diejenigen, die als Sozialhilfeempfänger im totalen Abseits stehen (Hartz IV). Es gibt keine Staatsunternehmen mehr (Old Labour) – jeder ist jetzt ein Staatsunternehmen (New Labour).

Die Folge ist aber nicht Integration, sondern Desintegration. Nicht Mobilisierung, sondern Zunahme von Apathie. Nicht Versachlichung (von politischen Debatten), sondern Hysterie (Begeisterung für Schröders Machoallüren, die de facto autoritäre Gesten sind). Die Politik scheint sich in ihrem Entscheidungsdrang geradezu zu überschlagen, und doch hat man als Außenstehender den beständigen Eindruck von Stillstand.

Der politische Raum, hier als etwas verstanden, wo die Leute wie auch immer antagonistisch, zerrissen oder parteipolitisch verballhornt ihre gesellschaftlichen Anliegen ausfechten, zerfällt, ohne dass er verschwindet und etwas anderes an seine Stelle treten könnte. Man muss nicht nur in der Konkurrenz mit den anderen Anbietern von Arbeitskraft um seinen Lebensunterhalt ringen, man soll auch keine gemeinsame politische Repräsentation jenseits des Nationalismus mehr haben. Denn dann droht wieder das Gespenst des Kollektivismus, der legendären „gewerkschaftlich-sozialstaatlichen Besitzstandswahrung“, und die steht der nicht minder legendären „Eigenverantwortung“ diametral entgegen. Dass dieser sozialdemokratische Antikollektivismus so massiv auf die SPD zurückschlägt, damit haben die Regierenden vielleicht wirklich nicht gerechnet. Für den Erfolg des Projektes spielt das aber keine Rolle.

Wer jetzt ein stärkeres Gift als die Melancholie braucht und zu Pessimismus und Zynismus wechselt, liegt falsch: Eine bloße Auslieferung der Leute an die Verhältnisse gibt es nicht. Schließlich sind immer noch sie es, die die Verhältnisse durch ihr Tun und Arbeiten reproduzieren. Die Prekarisierung der Lohnabhängigen bedeutet also auch für das Kapital ein Risiko: Wo immer mehr ausgegründet, ausgelagert und den Arbeitern ein immer unerbittlicherer Zeittakt aufgezwungen wird, werden die Produktionsketten sensibler. Um sie reißen zu lassen, reicht am Ende ein kleiner Arbeitskampf in irgendeinem Transportunternehmen. Und dass „wirtschaftliches Handeln“ etwas eminent Politisches ist, ist den Leuten unter Rot-Grün genug eingetrichtert worden.

Der Autor lebt und arbeitet als Journalist und Publizist in Köln.