Barbara Bollwahn über ROTKÄPPCHEN : Über zurückgebliebene Männer
Im Osten gibt es Regionen, aus denen Frauen in Scharen abwandern. Das ist fatal für das männliche Geschlecht
Es könnte ein Paradies für Frauen sein: Regionen mit einem Männerüberschuss, schnell und günstig mit dem Wochenendticket zu erreichen. Ein angehender Geograf von der Universität Greifswald hat in seiner Diplomarbeit eine Untersuchung gemacht, die „männerlastige“ Gegenden zutage fördert. In ganz Ostdeutschland gibt es keine einzige Region mit einem Frauenüberschuss, dafür teilweise zwanzig Prozent weniger weibliche als männliche Einwohner. Spitzenreiter ist Thüringen, wo auf 100 Männer nur 81,9 Frauen kommen.
Weiblicher Instinkt oder Zufall, Anfang Juli, als ich noch nichts von der Studie wusste, bin ich dorthin gefahren. Zusammen mit einem Freund aus Berlin, der seinem Heimatland Thüringen nach dem Mauerfall den Rücken gekehrt hat. Es war ein furchtbares Wochenende. Dank der Studie über die „disproportionale Bevölkerungsentwicklung in europäischen Regionen“ habe ich jetzt eine Erklärung, warum der Ausflug in die Hose ging, warum er in die Hose gehen musste.
Es hatte mit einem zünftigen Gelage begonnen. Ein Cousin dieses Thüringer Freundes war zu Besuch in Berlin. Im Gepäck hatte er zarte Bürgermeisterstücke von frei lebenden Rindern, die aus der Fleischerei seiner Eltern in einem Dorf bei Suhl stammten. Zum Dank nannten wir ihn nur noch den „Bürgermeister“. Als er erzählte, dass seine Eltern neben der Fleischerei auch ein Hotel haben, das zurzeit auf einen neuen Pächter wartet und leer steht, beschlossen wir, uns für ein Wochenende in dem Hotel einzumieten und ganze Rinder zu grillen. Der Bürgermeister war begeistert und erneuerte ein ums andere Mal seine Einladung.
In den Wochen danach hörten wir nichts mehr von ihm. Während ich mir ausmalte, wie ich in einem Thüringer Dirndl an der Hotelrezeption stehen würde, drang kein Wort des Bürgermeisters aus dem Thüringer Wald nach Berlin. Mails und Anrufe blieben unbeantwortet. Erst an dem Tag, als wir uns auf den Weg machten, erreichten wir ihn. Verdruckst teilte er uns mit, dass das mit dem Hotel nicht geht. Zwischen den Zeilen hörten wir heraus, dass seine Eltern Angst hatten, dass wir das Haus zerlegen würden. Warum er sich nicht vorher gemeldet hat, blieb ein Rätsel. Als Alternative bot er ein Gartengrundstück mit einer Laube außerhalb von Suhl an. Dort wollte er uns erwarten, zusammen mit einem Kumpel.
Am frühen Abend erreichten wir die Gartenkolonie, wo statt der versprochenen Bürgermeisterstücke nur Bratwürste auf dem Grill lagen. Dazu pries der Bürgermeister einen stark säurehaltigen Wein, den er sehr günstig bei Netto gekauft hatte. Nach einigen Gläsern trug er uns Gedichte vor. Der Bürgermeister ist Jurist und arbeitet seit kurzem als Anwalt beim Arbeitsamt, wo er Widersprüche von Leistungsempfängern bearbeitet. Weil ihn das nicht ausfüllt, schreibt er in der Dienstzeit traurige Gedichte, die von endlosen Fluren und der Schwere der Zeit handeln.
Der Kumpel des Bürgermeisters war weniger feinsinnig. Er erzählte freimütig, dass er seit Jahren ins Fitnessstudio geht und Aufbaupräparate schluckt. „Ich will einen muskulösen Körper. Darauf stehen die Frauen“, verkündete er. Er entpuppte sich nicht nur als beschränktes Muskelpaket, sondern noch dazu als Reserveoffizier der Bundeswehr, für den es nichts Schöneres gibt, als mit gleichgesinnten Männern bei Einsätzen im Ausland für Recht und Ordnung zu sorgen. „Weil es jemand tun muss.“ Ich bin irgendwann ins Bett gegangen. Ich konnte die verquaste Scheiße, die der Bürgermeister unwidersprochen hinnahm und gegen die der Thüringer Freund mit guten Argumenten, aber ohne Erfolg ankämpfte, nicht mehr ertragen. Schlaf fand ich genauso wenig wie eine Erklärung für diese Nacht.
In der Diplomarbeit steht über die Folgen der Abwanderung von Frauen aus dem Osten ein Satz, der mir zu denken gibt: „Für die zurückbleibenden Männer ist das frustrierend und kann zu Spannungen führen.“ Zurückbleiben, das klingt wie eine Bahnhofsdurchsage. Ich würde sie zurückgebliebene Männer nennen.
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