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Archiv-Artikel

Ostler mit leisen Tönen

AUS WITTENBERG HEIKE HAARHOFF

Hartmuth König wollte sie jetzt schön in die Enge treiben. Ein paar Fragen, und die Merkel wäre bei ihrem Wahlkampfauftritt in Wittenberg gleich wieder am Ende. So wie er es geübt hat am Tag zuvor: Finden Sie auch, dass wir Kälber sind? Haben Sie uns die Arbeitslosenhilfe gekürzt, um uns jetzt auch das Wahlrecht abzusprechen? Schaffen Sie doch den Stoiber ab!

„Meine Damen und Herren, der Unterschied zu vor 15 Jahren ist, dass Sie heute freiwillig auf diesen Platz gekommen sind, dass manche die ganze Zeit brüllen können und andere zuhören, dass also jeder seine Meinung äußern kann, ohne dass er dafür gleich hinter Gitter kommt, und darüber bin ich froh.“

Was redet die da? Und wieso so lange? Einen Austausch hat sie angekündigt. Und jetzt? Spricht nur sie. Ein feiner Austausch! Hartmuth König hat es nicht mal bis vor die Absperrung geschafft, die die Frau auf der Bühne vom Volk trennt. Sie will im September Kanzlerin der CDU/CSU werden, einer Union, deren westliche Prominenz derzeit wenig Gelegenheiten auslässt, die Leute im Osten zu diffamieren. Als Frustrierte, als Kälber, als Gewaltbereite, als Menschen, die möglichst keine Wahl mehr entscheiden sollen dürfen. Wittenberg, einst 56.000 Einwohner, heute 47.000, Tendenz sinkend, Arbeitslosigkeit gut 19 Prozent, Tendenz steigend. Königs Mitstreiter aus den Arbeitslosenhilfegruppen und Sozialbündnissen pfeifen. Hartmuth König schiebt das mitgebrachte Megafon von der einen Hand in die andere.

Bei der Generalprobe lief es wie am Schnürchen. Da saß Hartmuth König, 55 Jahre alt, auf dem Sofa in seinem Wohnzimmer am Stadtrand, zog sein Muscleshirt über den Bauch, ließ den rechten Arm mit dem eintätowierten Herzen und dem Goldkettchen durch die Luft tanzen und seine Fragen zu den Kälbern und zu Stoiber durch den 15 Quadratmeter kleinen Raum dröhnen. Man konnte Angst haben, die Plattenbauwände würden bald zittern, und am Ende war es ganz still. Selbst seine 18-jährige Tochter, die sonst gern über Politik diskutiert, wusste keine Antwort, sie nickte bloß stumm. Der Einzige, der noch leise Töne von sich gab, war der Fernseher, auf Sat.1 lief Dawson’s Creek, Teil 19.

„Die Arbeitslosigkeit ist überall zu hoch, aber sie ist besonders im Osten zu hoch. Wir dürfen uns niemals mit diesem Zustand abfinden. Wir haben Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zusammengelegt. Das halte ich für richtig.“

Anke Burkhardt schließt die Programme auf ihrem Computer im Institut für Hochschulforschung in Wittenberg, es ist 16.15 Uhr an dem Nachmittag, an dem Angela Merkel in der Stadt ist. Zeit, sich auf den Weg zu machen, über den gepflasterten Innenhof zu gehen, in dem Konzerte stattfinden und Grillfeste, durch die sanierte Fußgängerzone auf den Marktplatz. Anke Burkhardt hat sich Gedanken gemacht über die Gründe der Westpolitiker, Abfälligkeiten über den Osten loszuwerden, und über die Gründe der Ostler, darauf so empfindlich zu reagieren, wie es umgekehrt im Westen kaum einer tun würde, 15 Jahre nach der Einheit.

Anke Burkhardt ist Geschäftsführerin des Instituts und seit vielen Jahren Gender-Forscherin, geboren vor 50 Jahren in Berlin, „Hauptstadt der DDR“. Sie sagt: „Es hängt mit der persönlichen Situation der Leute zusammen. Wenn man angekommen ist, wenn man eine soziale Sicherheit hat und kollegiale Bindungen, dann ist das anders, dann ärgert man sich vielleicht, aber man macht nicht sein Selbstwertgefühl von Stoibers und Schönbohms Meinung abhängig.“ Was sie auf die Straße treibt, zu den rund 2.000 Menschen auf dem Markt, das ist ein anderes unschönes Gefühl, „es ist, als wenn Stoiber Merkel schaden wollte“.

Die Augen hinter der randlosen Brille sind wachsam. Anke Burkhardt hat eine geschulte Wahrnehmung für Situationen, in denen Männer sich auf Kosten von Frauen profilieren, sie ist berufsbedingt und hat nichts mit etwaiger Begeisterung für Merkel zu tun: „Ich habe mit der CDU eigentlich wenig am Hut.“ Aber dass die Partei nun eine Frau, eine aus dem Osten dazu, erst zur Kanzlerkandidatin kürt und nun schon wieder an ihrem Stuhl sägt, das beschäftigt die Wissenschaftlerin. Auch persönlich. „Wir sind fast gleich alt, sie Jahrgang 1954, ich 1955, Schulzeit in den 60ern, wir haben beide studiert und promoviert und sind auch heute berufstätig.“ Sie könnte auch sagen: Wir haben es geschafft, uns durchzusetzen, obwohl das nach der Wende keine Selbstverständlichkeit gewesen ist und heute erst recht nicht, und wer uns das streitig macht, gegen den verbünden wir uns.

„Wo der Westen vom Osten lernen kann, muss er lernen. Wo der Osten vom Westen lernen kann, muss er das auch tun. Viele Menschen sind enttäuscht, ich weiß das. Die wählen jetzt Protest. Aber in der Demokratie hat jeder Mensch eine Stimme, und mit der kann er entscheiden: Will ich bloß protestieren, oder will ich sie einsetzen für etwas, wo ich etwas bewegen kann?“

„Lügnerlügnerlügnerlügnerlügner!“ Hartmuth König hält das Megafon jetzt dicht an den Mund gepresst, er schreit, was die Lungen hergeben. Kellner ist er gewesen, Kellner und Gaststättenleiter bei der HO. Dann die Wende. Der Diabetes und die Turnerbrüche, an beiden Handgelenken. Im Juni 1991 hat er zuletzt in seinem Beruf gearbeitet. Zwischendurch Umschulung zum Bürokaufmann. Wittenberg braucht keine umgeschulten Bürokaufmänner. 14 Jahre ohne Arbeit, im Herbst wird er die Linkspartei wählen.

Ausgerechnet Hartmuth König. Der Vater Polizist, die Mutter ebenso linientreu, er hat die SED gehasst. In der PDS fand er die Betonköpfe wieder. Sein Kanzler, das war Kohl, der Kanzler der Einheit. Lange ist das her, und irgendwann in der Zwischenzeit, so scheint es, ist Hartmuth König die Gelassenheit abhanden gekommen und auch die Zuversicht, dass sich das Blatt für ihn noch einmal wenden könnte. Und jetzt Stoiber! „Ich kann nicht einfach sagen, pah, dummer Bayer, dummer Spruch. Ich kann’s nicht! Ich fühle mich persönlich beleidigt.“ Hartmuth König ist ein großer, ein starker, ein stämmiger Mann. Einer, der mal Bierfässer gestemmt und Handgreiflichkeiten unter Kneipengängern beendet hat. Sein Blick verschwimmt, er nuschelt. „Ja, sind wir denn nur noch Nullen?“

„Die Bildung ist ein Schlüssel für die Wirtschaft. Und die, die da jetzt schreien, die haben nichts mitgekriegt in der Schule. Die helfen uns aber nicht weiter, die verdienen kein Geld.“

Hartmuth König hat sich die Frage oft gestellt, warum gerade ich, warum der Osten, was habe ich, was haben wir falsch gemacht, und wenn er diesen Selbstzweifel hat, dann ist das die eine Sache. Eine andere ist es, wenn ein Fremder, ein Westpolitiker mit einem Leben ohne Brüche und ohne 1-Euro-Job mit Sprüchen im Wahlkampf ins Schwarze dieses Zweifels trifft. Dann fehlt manchmal das Selbstbewusstsein. „Das Volk zu beschimpfen, das hätten nicht einmal die DDR-Politiker gewagt“, sagt Hartmuth König.

„Es ist so viel Vertrauen in der Politik verschwendet worden. Es wurde das Blaue vom Himmel versprochen und das Gegenteil gemacht, das hat die Menschen so missmutig gemacht. Die Ehrlichkeit muss in der Politik wieder Einzug halten, damit wir uns wieder vertrauen können. Wir wollen den Blick gesamtdeutsch nach vorne richten.“

Fernab der aufgeheizten Marktplatzstimmung, im 25 Kilometer östlich gelegenen Jessen, lassen sich die Dinge mit Distanz betrachten. Ingo Hanke bietet einen 2004er Kerner an, QbA trocken, Restzucker 6,6 Gramm, Säure 7,1 Gramm pro Liter. Es ist einer seiner Weine, 25.000 Flaschen produziert der Winzer im Jahr auf einem der nördlichsten Weingüter Deutschlands. 1994 haben sein Bruder und er sich selbständig gemacht, 24 Jahre alt war Ingo Hanke damals, 25 sein Bruder. Sie hatten keine Angst vor dem Risiko und haben die Flächen der ehemaligen LPG übernommen und die Familientradition fortgesetzt, die ihr Vater Anfang der 70er-Jahre auf Druck der DDR-Regierung hatte aufgeben müssen.

Dass er frustriert wäre, kann Ingo Hanke nicht gerade sagen. Er ist glücklich mit seiner Frau, das Geschäft läuft gut, bis zu 17 Erntehelfer beschäftigt er in der Saison. Er schenkt nach. Die Reben ranken sich bis an die alten Hausmauern hoch, eine Katze läuft über den Hof, sie hat eine Maus gefangen. Stoiber, das ist Wahlkampfgetöse, das ist bayerisches Trampeltum, das wird ihn nicht umstimmen, die CDU ist die Partei, der er wirtschaftlich mehr zutraut als den anderen. Einerseits. Andererseits sind da die Erinnerungen. An den Kollegen aus dem Westen, von dem er nach vier Jahren gemeinsamer Weiterbildung im Weinanbau dachte, er sei ein Freund. Bis zu dem Tag mit dem Spruch: Dein Vater hat in der DDR doch überhaupt nicht gearbeitet. An den Geschäftsmann aus Hamburg, der gegen seinen Willen zur Kur nach Sachsen-Anhalt geschickt wurde und bei einer Weinprobe verkündete, dafür, dass er von den neuen Ländern im Grunde gar nichts halte, schmecke der Wein aber ganz ordentlich.

„Es ist so“, sagt Ingo Hanke. „Wir wissen mehr über den Westen als umgekehrt der Westen über uns.“ Und so gesehen seien Stoibers Äußerungen kein Ausrutscher, sondern ein Beispiel für eine Haltung aus Ignoranz, Überheblichkeit und freundlichem Desinteresse, mit der viele Westler den Ostlern noch begegneten. Ingo Hanke bietet noch einen Traminer, einen Müller-Thurgau und einen Weißburgunder an. „Ändern“, sagt er, „kann man da nüscht.“