: Von Bärten und Oasen
Geschichten aus dem Alltag: Der kolumbianische Autor Memo Anjel liest beim Laokoon-Festival auf Kampnagel
Gemeinhin wird die kolumbianische Großstadt Medellín in Literatur und Film als Schauplatz des Drogenhandels, von Verbrechen und Gewalt dargestellt. Der jüdisch-kolumbianische Autor Memo Anjel dagegen stimmt in seinem Roman Das meschuggene Jahr andere Töne an. Zwar siedelt er seine Geschichte in den 50er Jahren eben jener zwei Millionen Einwohner-Metropole an, verweigert sich aber dem klischeehaften Bild eines von Drogenkartellen geprägten Kolumbiens. „Es gibt nicht nur Gewalt, Drogen und Bürgerkrieg“, erklärte er in einem Interview, „man kann auch noch ganz andere Aspekte Kolumbiens betrachten.“
So beschreibt sein Buch, aus dem er jetzt auf Kampnagel liest, das turbulente Leben einer zehnköpfigen sephardischen, also ursprünglich aus Spanien und Portugal stammenden Familie, aus der Sicht eines 13-jährigen Jungen. Die Familie träumt schon seit Jahren davon, nach Jerusalem zu reisen – doch fehlt es immer am Geld. Der Vater will die Reise durch die Erfindung einer vollautomatischen Brotbackmaschine finanzieren, woran er jedoch mehrmals scheitert.
Eines Tages aber steht plötzlich der reiselustige Onkel Chaim vor der Tür, der fortan bei der Familie verweilt. Im Gegensatz zu den übrigen Familienangehörigen glaubt er fest an den Erfolg der Erfindung. „Viele Geschichten trug er singend vor; er sang von Elefanten, die größer waren als unser Haus, und von Fledermäusen, die es mit einem zweimotorigen Flugzeug aufnehmen konnten, und von Arabern, mit Bärten so lang, dass sie von einer Oase zur anderen reichten“, schreibt Anjel.
In kurzweiliger Form vermittelt er so dem Leser die naive, liebenswerte Sicht eines Heranwachsenden auf die täglichen Glücksmomente und Katastrophen des Familienlebens. Am Schluss ist die Familie dem Ziel Jerusalem ein ganzes Stück näher gerückt.
„Im Roman gibt es keine Gewalt. Es gibt eher Träume und Ideale – und Verrücktheit“, berichtet Anjel, der glaubt, dass viele kolumbianische Verlage durch ihre Politik nur noch Karikaturen des Themas Gewalt erzeugen. „Die Romane handeln nicht mehr von dem, was tatsächlich geschieht, sondern bedienen Klischees – sie verzerren und vergrößern die Gewaltphänomene.“
Der künstlerische Leiter des diesjährigen Laokoon-Festivals, Álvaro Restrepo, hat es sich auf die Fahnen geschrieben, Künstler einzuladen, die ihre eigene Lebenswelt reflektieren. In Memo Anjel fand er einen Literaten, der eine kaum beachtete Seite Kolumbiens zeigt – die des alltäglichen Lebens.
Christoph Behrends
Sa, 20.8., 16.30 Uhr, Kampnagel