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Archiv-Artikel

Tränen, Feuer und Gebete

Viele Gaza-Siedler fügen sich letzten Endes in ihr Schicksal. Die Gewalt geht vor allem von Radikalen aus, die aus dem Westjordanland angereist sind

AUS JERUSALEM SUSANNE KNAUL

Die Szene ist surreal. Jüdische Siedler und Aktivisten aus dem national-religiösen Lager sitzen Seite an Seite mit den Polizisten, die den Auftrag haben, sie notfalls mit Gewalt wegzutragen, und singen. Noch kurz zuvor brannten die Reifen und Müllcontainer, wurden heftige Diskussionen geführt. Viele Familienväter empfingen die Sicherheitskräfte unrasiert und mit zerrissenem Hemd, beides Zeichen der Trauer eines frommen Juden. „Überraschend ruhig“, so kommentierte ein Polizeikommandant gestern die ersten Stunden der Evakuierung von zunächst fünf Siedlungen. Zwei im südlichen Gaza-Streifen gelegene Siedlungen waren schon in den Mittagsstunden leer geräumt. Kabinettsminister Matan Vilnai von der Arbeitspartei blieb nur wenige Minuten zu einem Solidaritätsbesuch. Unter dichtem Schutz seiner Bodyguards zog er ab, nachdem ihm ein Ei an den Kopf geflogen war.

Newe Dekalim, die größte der jüdischen Siedlungen im Gaza-Streifen, gilt als eine der ideologisch radikaleren, trotzdem waren schon knapp die Hälfte der insgesamt 470 Familien abgezogen, bevor die Evakuierung begonnen hatte. Eine über 60-jährige Siedlerin aus dem Westjordanland hatte versucht, sich zu verbrennen, und musste mit Verletzungen ins Krankenhaus gebracht werden. Um zu verhindern, dass das Haus in die Hände der Palästinenser fällt, legte eine Familie Feuer im eigenen Heim. Erst am Vortag, kurz vor Mitternacht, hatten Armee und Polizei über die ersten Siedlungen entschieden. Das Prinzip: eine Reihe von Siedlungen, wo geringer Widerstand zu erwarten ist, je mit einer der „Hardliner“ zu kombinieren. Neben Newe Dekalim gelten die beiden isolierten Ortschaften Kfar Darom und Netsarim als besondere Herausforderung.

Die Sicherheitskräfte gehen inzwischen davon aus, dass der Abzug sehr viel schneller beendet werden wird, als zunächst vermutet. Angesetzt waren drei bis vier Wochen. Von möglicherweise nur 48 Stunden war am ersten Tag die Rede. „In der kommenden Woche werden wir mit dem Abriss der Häuser beginnen“, hofft General Israel Siw, Chef der militärischen Operationsabteilung.

Der jüngste Beschuss mit Mörsergranaten, den die Hamas auf eine Reihe von Siedlungen abgegeben hatte, führte offenbar zu der Planungsänderung, möglichst schnell die Evakuierung abzuschließen. Am ersten Tag meldete die Armee keine Übergriffe von palästinensischer Seite. Allerdings kam es gestern Nachmittag im Westjordanland zu Gewalt, wo ein Israeli drei Palästinenser erschoss und mindestens zwei verletzte. Der Täter wurde verhaftet.

Die ersten heftigeren Rangeleien zwischen Siedlern und Sicherheitsleuten fanden im Umfeld der Synagogen statt. Das Gebetshaus in Newe Dekalim sollte zum „Symbol des gesamten Kampfes“ werden. So jedenfalls drohten Jugendliche, die sich mit Bänken verbarrikadierten und zuvor offenbar Nahrung für mehrere Tage gelagert hatten. Schon am Vormittag hatten Busse rund 300 junge Abzugsgegner abtransportiert, die die Polizisten und Soldaten zuvor unter lautem Protest festgenommen hatten. Ein junger Mann hielt sich verzweifelt die Hände vor das tränenüberströmte Gesicht, als ihn eine Gruppe Soldaten wegtrugen. In einem Bus schlugen die eben Verhafteten eine Scheibe ein. Die Jugendlichen aus Siedlungen im Westjordanland sind es, die mit den Sicherheitskräften ihr Katz-und-Maus-Spiel treiben und zum Teil mit Tellern und Tassen auf sie warfen. In einem verlassenen Zimmer fanden Polizisten selbst gebaute Waffen aus Drähten und Spritzen, deren Inhalt die Polizei zunächst in die Labore schickte. „So etwas hätten wir nicht erwartet“, zeigte sich selbst Polizeisprecher Avi Selba überrascht.

Die Räumung von Wohnhäusern und Wohnmobilen mit Gewalt begann erst in den frühen Nachmittagsstunden in Atzmona. In einigen Siedlungen hatten sich die Sicherheitskräfte mit den religiösen Juden darüber geeinigt, nicht vor dem Nachmittagsgebet mit der Räumung zu beginnen. Die Leute wurden zunächst in Hotels in Beerschewa und Ashkelon untergebracht.

„Wir haben versagt“, kommentierte Schaul Goldstein, Verwaltungschef von Gusch Etzion, einem Siedlungsblock im Westjordanland. Dennoch wollte er den Aktivisten „salutieren, die der Hitze und den erschwerten Bedingungen standgehalten haben“, um den Abzug aufzuhalten. Manche der Jugendlichen hatten sich schon vor Tagen, zum Teil vor Wochen in die militärische Sperrzone im Gaza-Streifen eingeschlichen.

„Greift mich an, nicht die Polizisten und Soldaten“, appellierte Premierminister Ariel Scharon – allerdings aus sicherer Entfernung. In seinem Jerusalemer Amtssitz wurde eigens eine Operationszentrale eingerichtet, in der sich der Regierungschef rund um die Uhr über den aktuellen Stand des Rückzugs orientieren kann. Die nächste Evakuierungsrunde wird vermutlich auch den Norden betreffen, wo drei Siedlungen von den Bewohnern bereits komplett geräumt worden sind. Nur noch 15 Familien halten in Aley Sinai die Fahne hoch, wären aber, so heißt es, sofort zum Umzug bereit, wenn sie nur wüssten, wohin. Die Gruppe wollte unter allen Umständen zusammenbleiben.