DVDESK
: Eine Geschichte zieht Kreise

„Margaret“ (USA 2011, Regie Kenneth Lonergan); die DVD ist ab 12 Euro im Handel erhältlich

„Margaret“ ist ein scharf ins Licht gerücktes Universum der ambivalenten Figuren

Hier ist etwas außer Kontrolle geraten: Zum einen ein Bus in Manhattan, der eine Frau brutal überfährt. Der Fahrer (Mark Ruffalo) hat mit einer jungen Frau am Straßenrand geschäkert, das Rotlicht übersehen und bremst viel zu spät. Wer aber vor allem außer Kontrolle gerät, ist diese junge Frau, Lisa (Anna Paquin), die den Aufprall mit ansieht und die sterbende Frau für die letzten Minuten von deren Leben im Arm hält. Die Sterbende ist in Panik und verwirrt und scheint Lisa mit ihrer eigenen Tochter zu verwechseln. Dann ist sie tot.

Melodramatische Wahlverwandtschaft

Lisa ist Schülerin, hat keine Ahnung von Mathe, ist noch, aber nicht mehr lang Jungfrau. Ist Tochter einer in ihrem aktuellen Stück gefeierten Schauspielerin, die von Lisas Vater, der nach Kalifornien gegangen ist, getrennt lebt. Dies und noch viel mehr erzählt „Margaret“ von Kenneth Lonergan über sie. Lisa ist die Figur im Zentrum des Films, aber die Geschichte zieht Kreise, Ellipsen, aber auch völlig offene, mathematisch schwer zu beschreibende Bahnen um sie herum. Manche Figuren, der von Matt Damon gespielte Mathelehrer zum Beispiel, tauchen auf und verschwinden wieder. Einer stirbt auch, Ramón (Jean Reno), der opernliebende Softwareunternehmer aus Kolumbien, der Lisas Mutter nach allen Regeln der südländischen Kunst den Hof gemacht hat. Er liebt die Oper, zu der auch der Film selbst zusehends eine melodramatische Wahlverwandtschaft entwickelt – und dann ist Ramón plötzlich tot. Herzinfarkt.

Es wird hier also viel mehr und ganz anderes als Lisas Geschichte erzählt – kein Wunder, dass der Film „Margaret“ heißt und mit seinem Titel einen ganz exzentrischen Punkt seiner selbst heraushebt: Margaret ist keine Figur dieses Films, sondern aus einem Gedicht von Gerard Manley Hopkins, das der Englischlehrer im Unterricht bespricht. Szenen aus dem Unterricht sieht man immer wieder, oft geht es da höchst politisch zur Sache, 9/11, Irakkrieg, Palästinenserkonflikt. Aus solchen und anderen Szenen wird eine ganze Welt aus Widerständen errichtet, an denen Lisa mit ihren Impulsen, Wünschen, ihrer Wut und Verzweiflung abprallt, sich abkämpft; Widerstände, die sie aber selbst oft erst heraufbeschwört, als ginge es ihr gerade um die Energie, die nur an Widerständen entsteht.

Lisas Geschichte, die sich so klar wie unlinear abzeichnet, nimmt vom Busunfall ihren Ausgang. Lisa setzt sich auf die Spur der in ihren Armen Gestorbenen, findet deren beste Freundin, gemeinsam strengen sie einen Prozess an, der sich gegen den Busfahrer richtet. Ihm schwört Lisa Rache, weil er seinen Fehler nicht einsieht – anders als sie, die aus dem fatalen Schäkern einen gewaltigen Schuldzusammenhang zu machen versucht. Zerknirscht ist sie nicht, sondern aggressiv wütend. Überhaupt scheint diese Schuld für Lisa eine Gelegenheit, sich selbst in den Mittelpunkt zu rücken. Sie ist intelligent, verwöhnt, rechthaberisch und der Versuch, sich mit der eigenen Schuld ins Recht zu setzen, erscheint zunehmend obszön.

„Margaret“ ist ein Universum der ambivalenten Figuren, die der Film scharf ins Licht rückt, ohne auch nur mit einer von ihnen moralisch fertig werden zu wollen. So vieles steht hier quer. Man staunt oft, dass das geht: eine Unzahl Figuren und Szenen und ihre Leben in Ausschnitten nebeneinander und doch zerfällt der Film nicht, verdichtet seinen Stoff aber auch an keiner Stelle zu sehr. Steigert sich zur ganz großen Oper und hat doch Luft für Banalitäten.

Eine traurige Geschichte für sich ist der Krieg, den Autor und Regisseur Kenneth Lonergan über Jahre mit seiner Produktionsfirma um den Schnitt seines Films führte. Einer der herausragenden amerikanischen Filme der letzten Jahre wurde darum in dieser Kompromissfassung lieblos in ein paar US-Kinos gebracht. Nach einer Twitteraktion begeisterter Kritiker gab es einen etwas größeren Start. In Deutschland geht es trotzdem direkt auf DVD, anders als in den USA ist der längere Director’s Cut nicht zusätzlich enthalten. Wer aber wissen will, wie ein amerikanisches Kino aussieht, das an Ernsthaftigkeit, Ambivalenzvermögen und Genauigkeit in der Menschenzeichnung noch die besten Serien überragt, der muss „Margaret“ sehen.

EKKEHARD KNÖRER