: Ausweg Kalifat
Der islamistische Terror ist auch Erbe der türkisch-nationalen kemalistischen Reformen. Der Islam hat durch den Verlust des Kalifats eine ökumenische Autorität eingebüßt
Die große mediale Aufmerksamkeit für die Anschläge von London oder Madrid lässt oft in den Hintergrund geraten, dass nicht nur westliche, sondern auch arabische und islamische Staaten häufig Ziel von Anschlägen sind. Der Grund für den Terror auch in diesen Staaten liegt, unter anderem, auch in der Rivalität der Auslegung der „rechten Lehre“ des Islam.
Neben den erklärten Zielen islamistischer Terrororganisationen wie etwa der sunnitisch geprägten al-Qaida, den „dekadenten Westen“ sowie den Staat Israel zu bekämpfen, bekennen sich die beteiligten Organisationen zu dem Wunsch, einen „Gottesstaat“ zu errichten, den Kalifatstaat. Dies impliziert folglich aber auch die (Wieder-)Errichtung des Kalifats.
Das Osmanische Reich entriss historisch gesehen das Amt des Kalifen nicht nur den Händen der arabischen Welt, es änderte auch das Wesen der Hierarchieordnung des sunnitischen Islam. Zuletzt wurde das Amt des Kalifen von der Großen Nationalversammlung der Türkei am 3. März 1924 abgeschafft. Für die damalige Zeit war diese Entscheidung eine folgerichtige Tat, die bis heute noch zentrale Bedeutung für den modernisierenden Laizismus hat. Mit der Entscheidung wurde nach religiösem Verständnis die einzige religiöse Autorität des sunnitischen Islam abgeschafft.
Die dem innewohnende Problematik zeigt sich in der jüngsten Geschichte der neu gegründeten Türkei, als etwa die Kurden dadurch ihre einzige Integrationsfigur und Bindung zu ihren türkischen Mitbürgern verloren. Reguliert wurde der Konflikt durch den Nationalismus im Sinne eines Patriotismus, der die Religion auf klassische Weise ersetzte. Nicht die ethnische Zugehörigkeit, sondern die der Religion war bestimmend beim Bevölkerungsaustausch für die Unterteilung zwischen Grieche und Türke. Erst die Homogenisierung der Religion konnte die verschiedenen Völker zu „Türken“ vereinen, welche aus religiöser Sicht dem inoffiziellen „nationalen Quasikalifen“, dem neu erschaffenen Direktorium für Religionsangelegenheiten, unterstanden.
Atatürk begründete die Abschaffung des Kalifen, indem er dem Amt eine religiöse oder politische Bedeutung absprach. Im Zeichen der nationalen Außenpolitik verletze es zudem die nationale Souveränität eines Staates, wenn neben seinem Staatsoberhaupt ein geistliches Oberhaupt im Ausland existierte, das zuständig für die Verwaltung der religiösen Angelegenheiten wäre und so in das innerstaatliche Wesen eingreifen könnte.
Die Hierarchiestrukturen außerhalb der Türkei blieben allerdings weiter bestehen und entwickelten sich im Zeitalter der Nationalismen autonom und unabhängig voneinander in Sachen der religiösen Auslegung und Ausübung langsam weiter voneinander weg. Als Folge entstanden innerhalb des sunnitischen Islam „Quasisekten“, deren geistliche Führer die Gunst der Stunde nutzen und sich mit den Eigenschaften eines Warlords nicht selten als lokale Herrscher postulieren. Der Islam hat durch den Verlust des Kalifats seine „ökumenische“ Autorität verloren.
Auch ist der Gedanke von islamisch „unierten“ Gemeinden scheinbar unmöglich, da hierfür die von der gesamten islamischen Welt anerkannten Vertreter fehlen, die einen Dialog erst ermöglichen würden. Der Libanon ist ein Negativbeispiel für ein postosmanisches Millet-System, in der die Religionen nebeneinander statt miteinander zusammenleben. Lastet der Türkei womöglich ein schweres kemalistisches Erbe an, aus dem indirekt ein Teilauslöser einer internationalen Terrorwelle entstanden ist?
Die Funktion eines Kalifen könnte heute eine Auffangfunktion haben. Es herrschen demnach unterschiedliche Randgruppen vor, denen die politische Autorität und Richtlinien nicht genügen. Aus diesem Legitimationsdefizit der betroffenen islamischen Staaten entsteht schließlich ein Machtvakuum, das sich zu einem Nährboden für fundamentale Strömungen entwickelt.
Betrachtet man sich heute die Souveränität der islamischen Staaten, so erzeugt das Kalifat mit seinem universalen Charakter für unsere Zeit ein überaltertes utopisches Bild, das keinen Platz in der muslimischen Staatenwelt mehr findet. Ein „Kalifatsstaat“ eines Metin Kaplans, des „Kalifen von Köln“, verdeutlicht, wie unterschiedlich die gesellschaftliche Stellung eines Kalifen, welcher nur der geistige „Hirte“ der Sunniten darstellt, von den extremistisch-islamischen Strömungen verstanden wird.
Aus diesem Grund erklärt sich auch, warum in der Türkei radikalfundamentalistische Kalifatsdiskussionen nicht nur überflüssig sind, da diese eben die Abschaffung des Laizismus und der Republik abzielen, sondern auch strafrechtlich verfolgt werden, da sie verfassungswidrig sind.
Trotzdem weist der sunnitische Islam, durch dieses fatale historische Ereignis, strukturelle Schwächen auf. Ihm fehlen die institutionellen Körper, die beratende Funktionen übernehmen könnten, etwa in Form eines Konzils oder einer Schura nach islamischem Verständnis, um diese institutionelle Lücke aufzufüllen. Es herrschen zahlreiche Schulen der islamischen Rechtslehre in mehreren islamischen Ländern, die nicht selten ihrer (national-)staatlichen Legitimation dienen. Zwar gibt es die Organisation der Islamischen Konferenz (OIC), jedoch werden in ihr meist nationalstaatliche Interessen vertreten und das Netzwerk ist zu lose, um Minimalkonsensbeschlüsse bindend auf alle Länder übertragen zu können. Zudem steht sie bei der Verurteilung von Gewalttaten zu passiv da.
Eine weitgehende und umfassendere Ausstattung würde aus der OIC einen „universalen Quasikalifen“ machen. Im Grunde könnte dieses Amt, das der „Präsidentschaft des Direktoriums für Religionsangelegenheiten“ der Türkei gleichkommt, der Rolle des Papstes oder eines christlich-orthodoxen Patriarchen ähneln. Dieser „Quasikalif der OIC könnte oder sollte nach koranischer Auslegung von einem internationalen Rat der Rechtsgelehrten ins Amt gewählt werden, welcher sich lediglich der Verwaltung, den Glaubensfragen und der Pflege des religiösen Kultus zu bemächtigen hat. Bevor jedoch Menschenrechts- und Demokratiedefizite sowie der Akt der Nationalstaatlichkeit nicht vollkommen vollzogen werden, bleibt zweifelhaft, ob die arabischen islamischen Staaten zu einer solchen Annäherung bereit wären und die Institution nicht missbrauchen würden.
Selbstverständlich wären dadurch das Problem des internationalen Terrorismus keinesfalls von Grund auf gelöst, da mittlerweile die „Ökonomie des Terrorismus“ ihre eigenen naturrechtlichen Gesetzte erschaffen hat. Aber solch eine Institution könnte durch ihre Einheit und Verachtung vor Gewaltakten islamistisch-fundamentalistischen Strömungen entgegenwirken und somit von ihrer Seite einen nicht zu unterschätzenden Teil zu einer Friedenssicherung und -konsolidierung beitragen.
EFKAN BARIN