: Das Werk der Dom-Dentisten
DENKMALSCHUTZ Maß der Dinge und Vielzweckpfosten im Getriebe der Stadt: Die Türme des Doms sind Bremens zentrale Vertikale. Jetzt werden sie saniert
VON HENNING BLEYL
Ein Nagel in der Außenmauer ist in etwa das gleiche wie eine Sektflasche im Gefrierfach: eine Zeitbombe. Es sei denn, man holt ihn rechtzeitig heraus. Am Bremer Dom ist derzeit zu besichtigen, was beim Zuspätkommen passiert, der Südturm ist seit Monaten eingerüstet. „Die Arbeiten wurden notwendig, um beispielsweise Passanten vor herab fallenden Steinteilen zu schützen“, teilte die Senatspressestelle ganz ungeschönt mit.
„Beispielsweise?“ Bislang sei nichts und niemand zu Schaden gekommen, versichert Bremens Landesdenkmalpfleger Georg Skalecki. Beim letztjährigen Musikfest allerdings, bei dem sich das Zentrum rund um den Dom in eine einzige Klassik-Flaniermeile verwandelte, hatte man schlichtweg Glück: Die Brocken fielen erst am frühen Morgen.
Alles Gute kommt von oben, doch besser noch, es bleibt dort gleich. Der nächtliche Steinschlag war Auslöser für eine umfassende Sanierung des Domäußeren. Nach dem porösen Südturm, der bis zu Beginn des Weihnachtsmarktes wieder allgemein besteigbar sein soll, folgen nächstes Jahr Nordturm und Westfassade. Mit seinem gewaltigen Gerüst ist der Südturm zu Bremens größter Freitreppe geworden, allerdings mit strenger Zugangsbeschränkung, schließlich herrscht Stolpergefahr: Je höher man steigt, desto mehr Übeltäter liegen auf den Gerüstetagen häufchenweise herum. Ausladende Metallanker, an denen ganze Straßenbahnoberleitungen befestigt waren, aber auch harmlos wirkende kleine Rosthäkchen für dies und jenes – so ein Domturm ist offenbar ein Vielzweckpfosten im Getriebe der Stadt.
Jedes noch so kleine Metallstiftchen bedeutet eine schleichende Gefahr für den Dom, erklärt Axel Krause, der Bauverantwortliche in der Bremer Kirchenkanzlei. Der unvermeidbare Rost dehne das Metall bis auf ein Dreifaches seines ursprünglichen Volumens – und schon bricht der Stein auf.
Die Domtürme mit ihren jeweils 98 Metern sind in Bremen immerhin und immer noch das Maß der Dinge, zumindest in der Vertikalen. Obwohl ihn andere Bauwerke längst überrundet haben, werden seine Türme immer noch als eine Art Totschlagargument genutzt: das neue Mega-Windrad im Stadtteil Seehausen? „Das wird höher als der Dom!“, dräut der CDU, die das Projekt folgerichtig wegen „Unzumutbarkeit“ ablehnt.
Manchmal ist es sehr gut, das Maß der Dinge so fassbar in der Stadt zu wissen. Sicher: Der Dom und seine Türme haben schon einiges mitgemacht. Lange Zeit ließen die Bremer ihn verkommen, vornehmlich, um den Lutheranern eins auszuwischen: Als die in der Stadt noch den Dom besaßen, ansonsten jedoch in der Minderheit waren, ließ die reformierte Mehrheit die Domtüren kurzerhand zunageln, zuletzt zwischen 1561 und 1638. Dann brach der Südturm zusammen.
Dessen aktuelle, jetzt bröcklig gewordene Fassade ist allerdings noch gar nicht so fürchterlich antik: Sie entstand während der ersten Restaurierung des verfallenen Doms zwischen 1888 und 1901. Nichtsdestoweniger lobt Skalecki den „guten Erhaltungszustand“ des Baus. „Der Dom ist hervorragend gealtert“, sagt der Landeskonservator mit dem nüchternen Stolz, den ein solches Amt vermutlich mit sich bringt: Sachliche Begeisterung, kontrollierte Liebe zum Objekt, das ist das angemessene Fluidum eines Denkmalschützers.
Ganz oben angekommen, überrascht das fachliche Lob dann doch ein wenig. Etliche Kapitelle, die kunstvoll verzierten Verbindungsstücke zwischen Säulen und Dachgewölbe, sind notdürftig mit Kabelbindern geflickt. Hat hier Max Bahr zugeschlagen? Mit einer Werbedemonstration für die Premium Size-Edition einer neuen Generation von Kabelbindern? „Das war nur die provisorische Lösung“, sagt Skalecki beruhigend, jetzt werde alles hieb- und wetterfest saniert.
Die Wunderwaffe gegen den Verfall heißt Luftkalkmörtel. Getestet in langen Versuchsreihen der Materialprüfungsanstalt Bremen – selbstverständlich nach historischen Rezepten. Nun steht die richtige Mischung parat: Weder fällt sie farblich negativ auf noch gefährdet sie die Substanz des Steins. Feuchtigkeit kann mühelos hindurch diffundieren, herein und wieder heraus – vor allem letzteres ist entscheidend. Auf der anderen Seite der Verträglichkeitsskala steht Zementmörtel: Er könnte geradezu als luziferische Erfindung durchgehen, so aggressiv rückt er den heiligen Mauern zu Leibe. „Schauen Sie, überall an den Zementfugen platzt der Stein ab“, sagt Skalecki kummervoll. Auch die bei früheren Restaurierungen gesetzten Zementplomben wirken sich verheerend aus, weil sie den Feuchtigkeitsaustausch blockieren.
Die Arbeit der emsigen Konservatoren auf den Gerüsten ist durchaus mit der eines Dentisten zu vergleichen. „Verfaulte“ Füllungen müssen raus, kleine Löcher und Schrunden sorgfältig geglättet werden, damit die Domtürme weiterhin wie zwei steile spitze Zähne in den Bremer Himmel ragen. Nur die kosmetisch beliebte Zahnreinigung unterbleibt. „Wenn wir die schwarzen Ablagerungen auf dem Stein entfernen würden, ginge zu viel Substanz verloren“, erklärt Skalecki. Im Übrigen könne man durchaus auch den Standpunkt vertreten, dass selbst die für den Ruß verantwortliche Umweltbelastung mittlerweile zur historischen Patina des Gebäudes gehöre. Skalecki: „Sie ist schließlich auch Teil unserer Geschichte.“
Ein anderer historischer Aspekt: Erstmal in der Geschichte der Bremer Domrestaurierungen ist genauestens kartiert, wo was – und mit welchem Material – ausgebessert wird. Die Patientenkarteikarte des Domes ist dick wie ein Buch, sie erfasst die gesamte Fassadenoberfläche im Maßstab 1:50 – inklusive mehrerer Dutzend Fugen-Kilometer.
Insgesamt kostet die Fassadensanierung 850.000 Euro, deren genaue Verteilung zwischen Kirche, Stadt, Bundesregierung, Denkmalschutz-Stiftung und Sponsoren noch nicht geklärt ist. Unter Umständen könnten selbst die heraus gezogenen Metallimplantate noch etwas beitragen: Wenn sich Käufer fänden, die originalen Domschrott erwerben wollen – samt Rost vom Maß aller Bremer Dinge.