: Wohlstandskind trifft Kriegskind
NACHWUCHS Schauspielerin Rosalie Thomass verkörpert heute im ZDF die junge Hannelore Kohl, eine Person, die der 22-Jährigen anfangs sehr fremd war – als eine tragische Schattenfigur
VON DAVID DENK
„Ich bin ja noch jung“, sagt Rosalie Thomass. Ein Schlusswort, das ihr offenbar nur so rausgerutscht ist – man sagt ja machmal komische Sachen. Denn zufrieden ist die 22-Jährige damit überhaupt nicht. „Der Satz passt eigentlich gar nicht zu mir“, schiebt sie hinterher. „Das klingt immer so nach ‚Ach ja, das verschieb ich nochmal um drei Jahre‘. Dabei habe ich viele Pläne, die ich möglichst schnell umsetzen möchte. Zum Lockerlassen muss ich mich zwingen.“
2010 möchte Rosalie Thomass Theater spielen. Noch fühlt sie sich handwerklich nicht reif genug, „einem Theatermacher unter die Augen zu treten“, arbeitet aber daran. Ein Sprecherzieher hilft ihr dabei. Und ihr Ehrgeiz. Sie möchte unbedingt auf die Bühne, es ist ihr Kindheitstraum: „Für mich wäre der Beruf nicht komplett, wenn ich nicht beides machen könnte, Film und Theater.“ Wäre Rosalie Thomass ein Unternehmen, man würde von „Expansionskurs“ sprechen. Sie selbst nennt es lieber ein „Ausweiten der Möglichkeiten“.
Im Leben wühlen
Rosalie Thomass wirkt wild entschlossen, sich in dem Beruf zu etablieren, der sie 2006 so plötzlich bekannt gemacht hat: In der „Polizeiruf 110“-Episode „Er sollte tot“ spielte sie ihre erste Hauptrolle überhaupt, eine junge Hure, die einen Freier töten lässt, und wurde dafür gleich mit den wichtigsten deutschen Fernsehpreisen ausgezeichnet – „eine einschüchternde Zeit“, findet sie heute. Rosalie Thomass hat das einzig Richtige gemacht – nämlich einfach weiter.
Heute ist sie in Thomas Schadts Dokudrama „Der Mann aus der Pfalz“ zu sehen – als die junge Hannelore Kohl. „Es gibt Rollen, die dich beim Lesen des Drehbuchs direkt berühren, und es gibt solche, bei denen man lange wühlen muss, um einen Zugang zu bekommen“, sagt sie. „Hannelore Kohl gehörte eher zu letzterer Sorte.“ Kein Wunder: Rosalie Thomass’ bewusste Erinnerungen an die Ära Kohl sind sehr begrenzt. Als der damalige Bundeskanzler 1998 abgewählt wurde, war Rosalie elf Jahre alt und Hannelore Kohl für sie nicht mehr als „eine tragische, verbitterte Schattenfigur“.
Die Wahrnehmung hat sich verschoben, als Rosalie Thomass sich auf die Rolle vorbereitet hat und dafür Biografien und Geschichtsbücher „regelrecht studiert“ hat, nur wie immer alles Angelesene irgendwann in den Hintergrund zu schieben und das „emotionale Verständnis für die Figur“ in den Mittelpunkt zu stellen – bei einer Frau, deren Leben so stark von Verzicht geprägt war wie das von Hannelore Kohl, nicht ganz einfach: „Ich bin 22 und habe alle Möglichkeiten. Das ist für mich total selbstverständlich. Natürlich weiß ich, dass es die Frauenbewegung gab und dass die wichtig war – heutigen Feminismus allerdings findet man manchmal schon fast ein bisschen übertrieben, weil doch eigentlich alles super scheint“, sagt sie. „Und dann beschäftigt man sich mit Hannelore Kohls Leben und denkt sich: Meine Güte, wenn die heute so alt wäre wie du, hätte sie die vielen Talente, die sie offenbar hatte, ganz anders ausleben können. So leben zu können, wie ich es tue, ist ein totales Geschenk.“
Dass Hannelore Kohl nach dem frühen Tod ihres Vaters das Sprachenstudium aufgegeben hat, um für die apathische Mutter da sein zu können, und später ihren Job bei der BASF, um für ihren Mann und dessen Karriere da sein zu können, hat Rosalie Thomass befremdet und imponiert zugleich. Ihre Generation wurde zu „gesundem“ Egoismus erzogen – in dem Bewusstsein, dass Selbstlosigkeit nicht belohnt wird: Wenn ich nicht an mich denke, tut es keiner. Rosalie Thomass ist ein Wohlstandskind, Hannelore Kohl dagegen war ein Kriegskind, das in Bombennächten und auf der Flucht vor den Russen gelernt hat, dass Zusammenhalt Leben retten kann.
Wenn es dazu noch eines weiteren Beweises bedürfte, wäre das dieser Satz von Rosalie Thomass: „Ich hatte lange keinen Bezug dazu, dass Deutschland mal geteilt war.“ Als die Mauer fiel, war Rosalie zwei. Als die Mauer fiel, war das für Helmut Kohl und seine Frau der Höhepunkt ihres Lebens. „Mehr als jetzt kannst du doch nicht erreichen“, beschwört die ältere Hannelore (Renée Soutendijk) im Film ihren Mann, der sich davon bekanntlich nicht zur Rente überreden ließ.
Die Hannelore Kohl ist mit Sicherheit nicht Rosalie Thomass’ stärkste Rolle, dafür ist der Film viel zu sehr mit dem Aufstieg ihres Mannes beschäftigt, wie die echte Hannelore musste sich auch deren Darstellerin dem unterordnen – aber dennoch ist die Rolle der Hannelore Kohl für sie eine wichtige, kann sie doch im Beruf nachholen, was ihre Karriere bei der Privatperson Rosalie Thomass beschleunigt hat: erwachsen werden.
Hannelore Kohl spielt sie bis zum Alter von Anfang dreißig, und auch in „Die letzten 30 Jahre“, einem Fernsehfilm, den sie gerade abgedreht hat, darf sie eine Damenwerdung verkörpern. Sie spricht von den Dreharbeiten so enthusiastisch wie andere höchstens von ihrem letzten Urlaub. „Ich bin wahrscheinlich von Berufs wegen prinzipiell sehr begeisterungsfähig“, sagt sie.
Rosalie Thomass führt ein ungewöhnliches Leben für eine 22-Jährige – ein unbeständigeres und zugleich verbindlicheres als die meisten in ihrem Alter. Sie dreht, dann dreht sie mal nicht, dann dreht sie wieder und nebenbei kümmert sie sich kontinuierlich um ihr Ein-Frau-Unternehmen. „Das heißt nicht, dass meine Entscheidungen dadurch wichtiger sind als bei Gleichaltrigen, aber es liegt schon ein anderes Gewicht darauf. Alles ist mit einer anderen Ernsthaftigkeit verbunden.“
„Ich fühle mich manchmal seltsam erwachsen“, sagt sie. Eine Frage, mit der man sich bei Rosalie Thomass unbeliebt machen kann, ist die, ob sie noch plant, eine klassische Berufsausbildung zu machen: „Der Zug Schauspielschule ist für mich abgefahren.“ Rosalie Thomass hasst diese Frage, weil die sie zur Anfängerin degradiert, die sie nicht mehr ist, und sie hasst sie noch mehr, weil sie weiß, dass sie noch nicht weit genug von diesem Stadium entfernt ist, um nur milde darüber hinwegzulächeln.
Rosalie Thomass spricht von ihrer Rolle in Max Färberböcks Kinofilm „Anonyma“. In einer internationalen Produktion neben gestandenen Kollegen wie Nina Hoss und Irm Hermann nicht unterzugehen, sich einen Platz zu erobern als Allerjüngste und Unerfahrenste, „das war wirklich eine lehrreiche Erfahrung“. Rosalie Thomass hat sich für learning on the job entschieden, vielleicht hatte sie nach dem Erfolg ihrer „Polizeiruf“-Episode auch kaum noch eine andere Wahl, jedenfalls verlangt sie Respekt für ihren Weg – auch von Journalisten.
Mal ganz ehrlich: Fühlt sie sich nicht manchmal auch überfordert? „Überfordert?“, antwortet sie, als höre sie dieses Wort zum ersten Mal. „Da muss schon einiges kommen.“ Rosalie Thomass hat nicht vor, dieses Wort in ihren Wortschatz aufzunehmen, spricht lieber von „Herausforderungen“ und gewährt dem Frager dann doch einen flüchtigen Blick in ihr Innenleben. „Ich lerne gerade, dass es auch okay ist, manchmal an Herausforderungen zu scheitern.“ Und das war’s auch schon wieder. Mehr sagt sie dazu nicht.
Neulich hat sich Rosalie Thomass an der Humboldt-Uni für Englisch und Deutsche Literatur eingeschrieben, hat neben Sprechtraining, Gesangsunterricht und Schauspielcoaching noch eine weitere Konstante in ihr unstetes Leben eingezogen. „Ich habe so große Lust darauf, meinen Kopf zu benutzen“, sagt sie. Da reichen die paar Bücher, die sie zur Vorbereitung auf eine Rolle liest, nicht aus. Zugegeben, es ist kein besonders origineller Vergleich, aber er trifft’s nun mal: Rosalie Thomass ist wie ein Schwamm, saugt auf und auf und auf, um das Aufgesogene bei Bedarf wieder abzugeben, rauszulassen. Am Anfang sei sie in Dreharbeiten immer so eingetaucht, „dass ich dann, als es plötzlich zu Ende war, dachte: Puh, mein Leben, da hab ich jetzt gar keinen Bock drauf.“ Damals hatte sie noch ein Parallelleben als Schülerin, heute hat sie nur noch dieses eine und geht deswegen viel bewusster damit um. „Mittlerweile weiß ich, wie wichtig es ist, das eigene soziale Umfeld zu pflegen, um nach einem Dreh nicht in ein schwarzes Loch zu fallen.“ Rosalie Thomass könnte vor Rührung heulen, als sie erzählt, wie zwei Freundinnen neulich heimlich ihre Küche gestrichen haben, was sie selbst ewig nicht geschafft hat. Zum Dank kochte sie für beide.
Rosalie Thomass wird jetzt erst mal ein bisschen Zeit für ihr Privatleben haben, das nächste Projekt ist noch nicht spruchreif. Wenn ihre Karriere so weitergeht, wird sie bald niemand mehr für ein Mädchen halten können, das dank einer glücklichen Fügung in ein paar Filmen mitspielen durfte. Bei den Regisseuren, die sie besetzen, habe sie dieses Standing schon erreicht, sagt sie. „Aufgrund meiner Liste an Erfahrungen wird mittlerweile anders mit mir umgegangen, anders mit mir gearbeitet und einfach das Gleiche von mir verlangt wie von einem gestandenen, erwachsenen Schauspieler.“
Auch wenn ihr das Wort nur schwer über die Lippen kommt: Rosalie Thomass ist stolz darauf, sogar sehr, und wundert sich darüber, warum man sich über Erreichtes in Deutschland nicht mehr freuen darf, ohne gleich als selbstverliebt zu gelten. „Der Welpenschutz ist weg. Und das ist ein Erfolg.“