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Archiv-Artikel

Kalt ist immer der andere

Helmut Koopmann beschreibt in „Die ungleichen Brüder“ das Verhältnis der Gebrüder Mann neuartig – Thomas Mann hat obsessiv gegen seinen älteren Bruder Heinrich angeschrieben

VON MARKUS JOCH

Meister großbürgerlicher Selbstinszenierung, Ironiker von Gnaden und verdienstvoller, wenn auch verspäteter Demokrat: Zum 50. Todestag Thomas Manns nur die bekannten Image-Elemente abzurufen, war dem deutschen Feuilleton offenbar zu wenig. Zum Wesenskern des Dichters sollen nun auch Herz, Glaube und Liebesfähigkeit gehört haben. Dass sich in dieses Bild die „Hassliebe“ zum Bruder Heinrich nicht recht fügt, wird, wie etwa neulich in der Welt, gerade mal am Rand eingeräumt. Das ist eine arg diplomatische Lösung, sie hat einen Schönheitsfehler.

Von Helmut Koopmann lässt sich lernen, dass der Bruderkampf mehr als nur einen Nebenaspekt darstellte, der den Wesenskern des Dichters unberührt ließe. Vielmehr hat sich das Buch des Augsburger Germanisten von den rituellen Verbeugungen in einem sensiblen Punkt gelöst: Koopmann geht von Gleichrangigkeit aus, er erkennt, dass der Bürgerkünstler obsessiv gegen den Älteren angeschrieben hat, von ironischer Souveränität so weit entfernt wie Pacific Palisades von Lübeck.

Noch 1944, im kalifornischen Exil, als Thomas längst als „the most eminent living man of letters“ gilt und den in den USA verarmenden Heinrich schon einmal mit einem 100-Dollar-Scheck bedenkt, gesteht er im Tagebuch die Furcht, vom Älteren doch noch als bedeutendster deutscher Autor überholt zu werden („alte Qual“). Dabei ist es schon ein Vierteljahrhundert her, dass er wirklich Anlass hatte, sich im Hintertreffen zu wähnen. 1919 durfte er sich mit seiner Überhöhung eines deutschen Angriffskriegs zur Kulturfrage („Gedanken im Kriege“, 1914) blamiert sehen, im Gegensatz zu Heinrich, der bereits zu Kaisers Zeiten die deutsche Untertanenmentalität seziert und sich auf die Seite der westlichen Demokratien gestellt hatte – auch auf die Gefahr hin, als Vaterlandsverräter dazustehen.

Doch überstand der Jüngere die heikle Phase zu Beginn von Weimar ja ohne Prestigeverlust; in dem Maß, in dem er sich mit der neuen Staatsform anfreundete, stieg er wie Heinrich zum Repräsentanten der Republik auf, vom Nobelpreis zu schweigen. Dennoch hat Thomas Mann nie zu innerfamiliärer Gelassenheit gefunden, hat sein Konkurrenzdenken für die Asymmetrie zweier eng verwobener Werkgeschichten gesorgt.

Koopmann zeigt leichthändig und sachkundig, mitunter weitschweifig, weil ins Material verliebt, wie intensiv die Brüder in ihren Essays und Erzählungen zeitgeschichtliche, artistische und mythologische Motive des anderen variiert haben, meist wohlbeabsichtigt, auf Überbietung bedacht. Umso interessanter der Unterschied in der Gemeinsamkeit. Heinrich beschränkt sich in der Regel darauf, entspannt raffiniert auf Thomas’ Großkünstlerpose anzuspielen– etwa im „Professor Unrat“, wo er sie ausgerechnet in Gestalt der Barfußtänzerin Rosa Fröhlich (alias Marlene Dietrich) persifliert. Gleichwohl hat er keine Schwierigkeiten, die Fähigkeiten des Jüngeren gelten zu lassen.

Anders Thomas, der Unsicherere, der von Beginn an der scharfen Abgrenzung vom Älteren bedarf, um literarische Identität zu gewinnen. Das ist, wie Koopmann betont, ein strategischer wie psychologischer Vorteil. „Tonio Kröger“ und „Der Tod in Venedig“ (1903/12) wachsen am Ehrgeiz, der glutvollen Lebens-, sprich: Sexverherrlichung der „Göttinnen“ (1903) eine zurückhaltendere und umso eindringlichere Schilderung erotischen Begehrens entgegenzusetzen. Unübersehbar freilich die Kehrseite „komparativischen Denkens“: der Hang, ironische Momente in Heinrichs „hysterischer Renaissance“ (Thomas) glatt zu übergehen, die Unfähigkeit, die federnd knappen, von den Expressionisten so bewunderten Sätze des Bruders zu verkraften, schließlich, später, die negative Fixierung im Politischen. Nicht allein, dass die nationalistischen Töne im Ersten Weltkrieg zwanghaft auf Heinrichs frankophile Linkswende seit 1905 antworten, auch stilistisch scheint das höhere Affektniveau des Jüngeren durch. Wenige und nur gerechte Zeilen des so genannten Zivilisationsliteraten wider die „geistigen Mitläufer“ von 1914 genügen, um die „Betrachtungen eines Unpolitischen“ auszulösen, Thomas’ schier endlose Selbstrechtfertigung, die in der Tat „formlos-chaotisch(e)“, gemessen an den Möglichkeiten ihres Verfassers. Wird der Zauberer hier also entzaubert? Das denn doch nicht.

Schon dass Koopmann die Romane von Thomas eine Idee plastischer verhandelt als die von Heinrich, lässt erkennen, wen er letztlich knapp bevorzugt. Gleiches gilt für die vorderhand ausgewogene Linie, dem einen die nuanciertere Zeichnung der Einzelcharaktere zu bescheinigen, dem anderen die Überlegenheit als Gesellschaftsromancier. Denn am Ende soll „Felix Krull“, der wunderbare Schelmenroman, auch der bessere Gesellschaftsroman sein, wird Heinrich auf eigenem Terrain doch noch geschlagen. Nun ist das zwar eine zweifelhaft These – Krulls Welt blieb die Hautevolee plus zwei Kleinganoven, während Heinrich auch das Kleinbürgertum zu schildern wusste–, aber eine schöne Behauptung, tricky, eines Felix Krull würdig.

Problematisch sind zwei andere, ganz unterschiedliche Punkte. Wer die feinere Erotik im Werk Thomas Manns auszeichnet, von sublimierter Homosexualität aber wenig wissen will – „Intimes […], das eigentlich nur den Voyeur interessieren dürfte“ –, fasst immer noch mit spitzen Fingern an, was Studien von Heinrich Detering und Michael Kämper-van den Boogaart nicht entlarvend, sondern als narratives Umspielen eines Tabus beschrieben haben, um das man längst keinen Eiertanz mehr aufführen muss. Zumal es in den Bruderkampf hineinspielt: Koopmanns Voraussetzung, dass das lebenslange Ringen mit Heinrich für Thomas’ Schreiben bestimmender war als die Homosexualität, ist vertretbar, aber sie trennt, was nicht immer zu trennen ist.

Es ist nun mal kein Sakrileg zu fragen, ob der Protest gegen Heinrichs „Sexualismus“ wirklich nur dem „schmissigen“ Stil galt, nicht auch dem hundertprozentigen Hetero. Eine besonders gelungene Passage handelt von narzisstischem Selbstschutz. Den Schwenk zur Demokratie („Von deutscher Republik“, 1922) vollzieht Thomas virtuos, ganz so, als habe er nie anderes vertreten („Erstaunliche Kapriolen und Pirouetten!“). Hier hätte man sich eine Einblendung von Heinrichs Reden und Essays der Zwanzigerjahre gewünscht. Nicht, um seine Geradlinigkeit zu Lasten eines Wendemanövers zu loben, das schwierig genug und letztlich verdienstvoll war, sondern weil Heinrichs Zeitdiagnostik, die die Totengräber von Weimar früher und präziser als Thomas beim Namen nennt, heute fast unbekannt ist. Wo, wenn nicht hier, hätte man Abhilfe schaffen können?

Dennoch, ein wichtiges Buch. Es hält Abstand zum komparativischen Denken, ohne zu verschweigen, wer von wem geistig abhängiger war, noch in der Verneinung. Ganz unabsichtlich erledigt es Hobby-Interpretationen, die meinen, dass alles, was Heinrich schrieb, „zur stillen, erbitterten Auseinandersetzung mit dem übermächtigen Schatten des jüngeren Bruders“ wurde (Joachim Fest). Da muss man nur die Köpfe vertauschen, wie Thomas in seiner indischen Legende (1940). Koopmann selbst nimmt das Motiv der Austauschbarkeit gerade dort kongenial auf, wo er die untergründige Gemeinsamkeit der Senatorensöhne erfasst. Beide hielten sich für auserwählt, nur eben auch für feinnerviger als der Bruder. Das war ihr unbewusster Konsens, Lübecker Existenzialismus: Der Kalte, das ist immer der andere.

Helmut Koopmann: „Thomas Mann – Heinrich Mann. Die ungleichen Brüder“. Verlag C.H. Beck, München 2005. 531 Seiten, 29,90 Euro