piwik no script img

Entfesseltes Kamillen-Ich

Justin Bieber als Dichter der Romantik. Eine Kritik

Liebesfoto: dpa

Als alte Freunde der Romantik freuten wir uns gestern sehr über die Meldung der schwärmerischen Nachrichtenagentur dpa: „Romantiker Justin Bieber schreibt Gedicht an Frau Hailey.“ Justin Bieber – ein Romantiker? Wie Novalis und Eichendorff? Holen wir doch unser leicht verstaubtes Kritiker-Besteck heraus und sezieren das Bieber‘sche Poem, das jüngst auf dem Dichterportal Instagram erschienen ist:

„Sonnenlicht fällt in den Abgrund / Wenn ich auf deine Lippen treffe / Wellen schlagen an die Küste / Meine Liebe für dich wächst mehr und mehr / Das Zirpen der Grillen ergreift mich wahrhaftig / Ich denke an dich, Gottes größte Kreation / Wenn ich verfall in den glückseligen Stand / erkenne ich dich als meinen Seelenverwandt / Es wird dunkel, zu dunkel, um etwas zu sehen / Eine kühlende Brise umarmt mich / Ein Hauch von Kammille frisch aus dem Garten / Mein Leben ist ein Film, in dem wir beide der Star sind.“

Tja, erst mal sacken lassen, diese, von uns in Schlegel’scher Tradition übersetzten romantischen Zeilen. Und nun zur Kritik: Der offenbar adoleszierende Poet entfesselt hier sein ganzes überbordendes Ich, um aller Welt sein Innerstes in einem wahrhaft innigen, aber in weiten Teilen ungereimten Werk von schwärmerischem Charakter zu präsentieren.

In gehobener Stimmung überwindet unser junger Meister die raue Wirklichkeit, indem er Naturmetaphern hervorzaubert und sie überträgt auf die von ihm besungene Muse, die er in den Bildern der Wellen, der Grillen, der Brise, ja der – so erstaunlich es klingt – beruhigenden Kamille zu verklären versucht. Sie, die ungenannte Hailey, besänftigt den aufgewühlten Liebenden, der in ihr ein göttliches Ideal sucht, das er nur in der Poesie findet, wenn er zwei Zeilen dann doch tatsächlich reimt auf „state“ und „soulmate“. Oder wie es in der deutschen Übersetzung mit einem Anklang an die Seelen suchende Romantik heißt: „Stand“ und „Seelenverwandt“.

Unser Jungromantiker ist auch historisch versiert genug, um zu zitieren aus dem Werk eines populären Vorvaters, des Nobelpreisträgers Robert Zimmermann, bekannt als Bob Dylan, der ans Himmelstor anklopfte mit der Zeile: „Es wird dunkel, zu dunkel, um etwas zu sehen.“ Es liegt darin die romantische Vorahnung des Scheiterns wie auch ein starkes Bedürfnis nach Selbsttäuschung angesichts der romantischen Hypostase.

Und so bleibt am Ende vor allem ein „Film“, die Dichtung selbst, die Kunst für die Kunst, eben die Romantik, deren hochpoetischer Wiedergänger der junge Barde Justin Bieber an der Seite seiner großen Muse Hailey ist. (mir)

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen