: Wenn Lieder Lärm werden
Singende Christenscharen in Köln sind lärmende Haufen am Rhein. Sie können einfach nicht still sein – und glauben, die Welt zu beglücken. Ein lärmendes Missverständnis
VON JAN FEDDERSEN
Es gibt viele, ja, sehr viele Missverständnisse über das, was Menschen mögen, woran sie leiden und was sie bedürfen. Eine Annahme ist beispielsweise, dass sie gern einsam auf einer Insel leben würden; wäre es so, hätte der Massentourismus keine Chance – doch im Gegenteil liebt der Mensch pralle Geselligkeit, anderenfalls führe er in den Ferien am drängendsten dorthin, wo niemand ist. Tut er aber nicht.
Auch geht fehlt, wer meint, Menschen brauchten Gesundheitsaufklärung, auf Zigarettenschachteln beispielsweise – als wüsste man nicht, dass das Rauchen schlecht ist. Das aktuell populärste Missverständnis ist freilich der Glaube, der Mensch in seiner Vereinzeltheit litte unter chorischer Gesanglosigkeit im öffentlichen Raum. Gerade aus Köln wird überliefert, wie christliche Rudel eine friedliche Millionenstadt besuchen, besser: heimsuchen. Denn es wäre ja alles nicht so enervierend, würden sie nicht dauernd singen. Fromme Lieder, außerdem „We shall overcome“ (wozu?) und, auf der Schlafwiese nächtens, „Knockin’ on Heaven’s Door“.
Und man darf nichts sagen, nicht meckern und zaudern. Stünde sofort im Verdacht, wie ein Blockwart zu reagieren. Beleidigt, übelnehmerisch und charakterlich eng. Die frohe Botschaft, heißt es, müsse laut hinausgerufen werden. Nein, muss sie nicht. Man stelle sich vor, die heuschreckenartig-friedliche Besetzung dieser rheinischen Stadt wäre nicht katholischer, sondern muslimischer oder buddhistischer Art. Man verbäte sich das entschieden! Aber den Katholiken scheint man alles durchgehen zu lassen: Selbst brutal lächelnd vorgetragene Beleidigungen („Homosexualität ist eine verbrecherische Sünde“) und einfältigstes Delirieren („Gott ist überall“). Und das auch noch auf allen TV-Kanälen, als würd das Katholische zum Erweckungsangebot verklemmter Katholen. Nichts als Propaganda!
Aber sollen sie doch singen. Für sich sein. Feiern und beten um und für das, was ihnen am Herzen liegt. Aber bitte leis’, stumm wie ein stilles Gebet auf dem Berge Sinai, weit weg von allen, fern aller Ohren. Zivilisation der urbanen Art lebt von stimmlosen Übereinkünften: dass man in der U-Bahn oder in der Eisenbahn nicht zu laut spricht; dass man mit dem Auto nach der Rotphase an der Ampel nicht per Kickstart Gas gibt; dass man in Restaurants und Cafés Benimm zeigt, indem man sich auf einen Kammerton verständigt. Alles andere – und dazu gehört das öffentliche Singen – ist behelligend und störend sowieso. Privat mag mehr erlaubt sein. Doch das Grölen, und sei es noch so feinstimmig, ist, sofern nicht als Konzert verabredet, eine Pein.
Nun könnte eingewandt werden, Autoverkehr störe in der Stadt doch auch. Erstens muss das nicht so sein, denn das Schönste an städtischen Grünanlagen ist doch, dass die Natur schön nah an der Metropole eingehegt ist; zweitens aber verbreiten Autos einen mehr oder weniger gleich bleibend brummenden Sound, auf den jede(r) seine, ihre eigene Melodie setzen kann. Doch dies verhalten, dezent, diskret. Nicht als enthemmte Aufwallung im Namen einer Instanz, die manche als Gott bezeichnen. Zivilisation lebt überhaupt von der Konvention, die Öffentlichkeit als Raum für viele, eigentlich alle zu nehmen – Menschen mit Wünschen, Tagträumen und Dingen, die sie sehen und über die sie grübeln. Zivilisation heißt, diese Konfiguration der Distanz zu wahren. Weltjugendtag ist, wenn diese Dezivilisierung, dieses bedrängende Summen und Falsettieren und Brummen mit öffentlichem Stillschweigen ertragen wird. Aber warum?
Falls er, dieser Gott, für irdisches Miteinander gute Ideen gehabt haben sollte, wären es gewiss diese: Gesegnet seien Walkman, Discman und iPod; gesegnet auch Kopfhörer, die Schall nur in die Ohren leiten. Singen in der Öffentlichkeit ist nichts als takt- und tonloses Haschen nach Wind. Singen an Straßenbahnhaltestellen, in Fußgängerzonen und motivationsloses Trällern auf Zeltplätzen, dieses Malträtieren der Tonleiter im menschlichen Sammelpack: In der Bibel steht davon nix. Wenn das kein Argument ist! Schluss also damit! Köln darf sich trösten: Nur noch wenige Stunden, dann ist der Spuk vorbei.