: Gefährliche Scharmützel
In Polen und Russland verschärft sich ein alter Konflikt über den Zweiten Weltkrieg. Er ist für die Identität beider Nationen unverzichtbar – und steht einer Aussöhnung im Weg
Merkwürdige Nachrichten dringen aus dem Osten. Kinder russischer Diplomaten werden in Warschau ausgeraubt. In Moskau schlagen Unbekannte polnische Diplomaten und danach einen Journalisten krankenhausreif. Nicht nur in den nationalistischen Kreisen beider Länder ist die Empörung groß.
Regierungsvertreter in Warschau und Moskau vermuten politische Motive. Ziel dieser Überfälle sei es, die internationale Glaubwürdigkeit des anderen zu zerstören. Während Polens Präsident Aleksander Kwaśniewski den Dialog mit Moskau sucht, stehen die rechtspopulistischen Law-and-Order-Politiker wie die Kaczyński-Brüder für eine Verhärtung. Schon lange sprechen sie vom Gespenst der „Rückkehr des russischen Imperiums“. Die polnisch-russische Diplomatenkrise ist Wasser auf ihre Mühlen. Lech Kaczyński ist nicht chancenlos, Polens nächster Präsident zu werden. Und ihre Partei „Recht und Gerechtigkeit“ hat gute Aussichten, nach den Wahlen im Herbst die Regierung zu stellen.
Die Handgreiflichkeiten sind nur der letzte Akt in einem Drama zwischen den beiden slawischen Ländern, das seit Anfang der 1990er-Jahre gegeben wird. Seitdem haben sie sich über den Umgang mit der Geschichte in den Haaren. Leicht kann die Krise zwischen Polen und Russland eskalieren, denn der geschichtspolitische Streit berührt das Selbstverständnis der beiden Nationen. Das ist der Stoff, der diese Schlägereien so gefährlich macht.
Dreh- und Angelpunkt der nationalen Identitäten Polens und Russlands ist der Zweite Weltkrieg. In Russland ist der Sieg der UdSSR im „Großen Vaterländischen Krieg“ das A und O des Selbstverständnisses. Mehr noch: Der Sieg gilt als Heldentat, die Ostmitteleuropa vor der Vernichtung gerettet habe. Der Aufbau kommunistischer Zwangsherrschaft danach spielt im russischen Bewusstsein keine Rolle. Kritik gilt als Undankbarkeit und Beleidigung der eigenen gefallen Soldaten und zivilen Opfer. Diese Interpretation schließt die Aufarbeitung der Schattenseiten des Krieges aus.
Auch in Polen ist der Zweite Weltkrieg eine wichtige Quelle nationaler Identität. Allerdings stehen der Hitler-Stalin-Pakt und „Jalta“ hier für den doppelten Verlust der polnischen Souveränität. Die Verschleppung und Ermordung von Millionen Polen in sowjetische Lager ist fundamentaler Bestandteil des kollektiven Gedächtnisses.
Das Stichwort Katyń bündelt die Ereignisse wie ein Brennglas, deshalb fällt es Polen so schwer, auf die Aufklärung des Verbrechens zu verzichten. In Katyń, einem Ort nahe der westrussischen Stadt Smolensk, ermordete der sowjetische Geheimdienst nach dem Hitler-Stalin-Pakt 1940 über 20.000 polnische Offiziere. Erst Michail Gorbatschow gab zu, dass der Mord auf Befehl Stalins verübt worden sei. Polen verlangte daraufhin, Katyń als Genozid anzuerkennen. Doch die von Moskau geleiteten Untersuchungen versandeten. Im Herbst letzten Jahres gab der Militärstaatsanwalt bekannt, die Ermittlungen einzustellen. Die Taten seien verjährt, mangels Beweisen könne kein Genozid vorliegen. In Polen regte sich Empörung. Seither sind die polnisch-russischen Beziehungen in einem solchen Maße gespannt, dass auch das Verhältnis der EU zu Russland Schaden nehmen kann.
Das Stichwort Katyń löst in Polen bis heute historische Reflexe hervor. Es steht für die Verkettung von Unfreiheit, Repression, Diktatur und Gewalt. Deshalb werden auch aktuelle Fragen durch das Prisma der Geschichte betrachtet. Derzeit erregen die Repressionen des weißrussischen Diktators Alexander Lukaschenko gegen die polnische Minderheit die Gemüter. Hier, so die Lesart der Opposition, stehe Russland hinter den Anfeindungen. Weißrussland sei ein Testlabor für autoritäre Reformen, um zu prüfen, wie weit Moskau überhaupt gehen könne. Polen drängt auf die Demokratisierung von Weißrussland und den EU-Beitritt der Ukraine, um sich vor einem „imperialen“ Russland zu schützen.
Je verhärteter nun die Fronten zwischen Warschau und Moskau sind, desto entschiedener setzt Warschau auf die Demokratisierung in Weißrussland, fördert offensiv die dortige Opposition – und bringt damit jene Kreise in Brüssel in die Bredouille, die eher auf einen behutsamen Umgang mit Moskau setzen. Erst jüngst wurden in Warschau Mittel für einen Radiosender bewilligt, um von Polen aus unabhängige Nachrichten in Weißrussland zu verbreiten. Es ist keineswegs ausgeschlossen, dass sich aus dieser Diktatur ein Szenario nach dem Vorbild der orangenen Revolution entwickeln wird. Und nichts fürchten die Putin’sche Bürokratie und russische Nationalisten mehr als die „Ukrainisierung“ Weißrusslands oder gar des eigenen Landes.
Das polnisch-russische Verhältnis bleibt gespannt. Eine Aussöhnung der beiden Staaten scheint Lichtjahre entfernt. Doch sie ist unverzichtbar. Russland müsste seine Verantwortung an den stalinistischen Verbrechen eingestehen, Polen davon absehen, das Verbrechen als Genozid einzustufen. Die Bedeutung des Zweiten Weltkriegs für das Selbstverständnis beider Ländern macht es jedoch unmöglich, einen Kompromiss zu finden.
Katyń aufzuarbeiten, hieße für Russland, an der sakralen Stellung des „Großen Vaterländischen Kriegs“ zu kratzen. Das ist nicht im Interesse von Putin und Co., die aus dem Krieg die Legitimation für ihre zentralistische Politik ziehen und nicht bereit sind, sich auf die Perspektive der Nachbarn einzulassen. Der Streit mit den baltischen Staaten vor dem 60. Jahrestag des Kriegsendes hat dies gezeigt. Moskau weigerte sich, die sowjetischen Annexionen zu verurteilen. Dies schränkt die Möglichkeit ein, den geschichtspolitischen Streit mit Polen zu lösen. Ein Kompromiss in dieser Sache gegenüber Russland gilt als Hochverrat. Mehr noch: Russland müsste auf den Pfad der Demokratie zurück, weil dies die Behandlung strittiger Themen erleichtert. Doch Demokratie steht auf Putins Hitliste nicht mehr ganz oben.
Solange zwischen Polen und Russland offener Schlagabtausch herrscht und das wechselseitige Misstrauen wächst, brechen auch für die EU schwierigere Zeiten an. Auch wenn das derzeit kaum möglich scheint: Eine Besserung ist erst in Sicht, wenn Brüssel die Initiative ergreift und den beiden Streithähnen das Futter entzieht. Brüssel sollte Moskau drängen, die Ermittlungen in der Katyń-Sache wieder aufzunehmen. Investitionen aus der EU sollten für Russland als Anreiz für demokratische Reformen dienen und strikt an deren erfolgreiche Implementierung gekoppelt sein. Bei Verstößen gegen demokratische Pflichten sollte die EU ihre Position als zentraler Wirtschaftspartner Russlands nutzen, um auf die Putin-Administration Druck auszuüben. Gelingt es, die Katyń-Frage zu lösen und die autoritären Tendenzen in Russland zu stoppen, würde der Wunsch in Polen nach der Isolierung Russlands schwächer und die Konfliktdynamik zwischen Russland und Polen entschärft.
SABINA WÖLKNER