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Archiv-Artikel

Verpeilter Ausstieg aus dem System

GEFÜHLTER ANTIKAPITALISMUS Uraufführung eines neuen Stücks von Nis-Momme Stockmann in Hannover

In diesem Verzweiflungsepos gibt es keine Antworten

Im Zwischenspiel in der zweiten Pause lümmeln drei gepuderte Banker in Rokokokostümen auf einem Podest im Foyer, schimpfen auf die Kartoffelsalat fressenden Massen, während sie ihr Sushi essen. Sie seien es doch, die die Gesellschaft voranbrächten, wofür sollten sie sich entschuldigen. Ein Kinderchor singt dazu und wünscht sich, dass die Welt eine bessere wäre. Der kurze Pausenfüller ist in seinem ausgestellten Banker-Bashing so plakativ und eindimensional, dass die Szene schon fast wieder subversiv ist, eine Reflexion über unsere eigenen klischeehaften Erklärungsversuche zu dieser Krise, deren tiefere Ursachen so komplex sind, dass die einfachen Gut-schlecht-, Freund-Feind-Schemata nicht mehr funktionieren wollen.

Die ganze fünfstündige Inszenierung von „Tod und Wiederauferstehung der Welt meiner Eltern in mir“ verharrt in diesem Nicht-erklären-Wollen und Nicht-verstehen-Können. Nis-Momme Stockmanns Text lässt keine Plattitüde vom bösen Banker und einer angeblich so perversen Wachstumsideologie aus. Er siedelt die kollektive Ratlosigkeit angesichts Finanzkrise und Eurocrash bereits im Schicksal seines Helden an, der zwar aus allen Systemzwängen ausbrechen will, aber außer wie Forrest Gump auf der Parkbank zu sitzen dann auch nichts mit der vermeintlichen Freiheit anzufangen weiß.

Alleine auf der bis zu den Brandmauern leeren Bühne (Bühne: Robert Schweer) findet sich der Mann mit den filzigen, langen Haaren (Hagen Oechel) wieder, einen Geldkoffer hinter sich herziehend mit seiner Beute. Mehrere Millionen Euro, mit denen er etwas ändern will, nachdem er über Jahre als Kundenberater der Deutschen Bank das Vertrauen seiner Kunden missbraucht und mit seinen Prämien sein Sushi finanziert hat.

Doch was tun mit den Millionen? Wie einst der Bankkassierer in Georg Kaisers expressionistischen Schauspiel „Von morgens bis Mitternachts“ begibt sich auch Stockmanns Held auf eine Irrfahrt durch eine von der Inszenierung absurd überzeichnete Gesellschaft, die er zwar verachten, aber sich ihren Mechanismen doch nicht entziehen kann. In einer Mietskaserne endet der große Ausstieg. In ein aus dem Boden wachsendes Gitternetz hängt der Regisseur Lars-Ole Walburg die Mitinsassen, jeder für sich verhaftet in einem perversen Arrangement mit den herrschenden Verhältnissen. Der Schlimmste ist der bierbauchige Vermieter (Aljoscha Stadelmann im rosa Lacoste-Hemd). Während der Flüchtling dessen Litaneien über Duschvorhänge, Lärm und scheißende Tauben erträgt, ahnt er, dass die Banker nicht das einzige gesamtgesellschaftliche Problem sind.

Eine Alternative zum feinen Bankermilieu? Zur schicken Marmorvilla mit eigenem Park? Stockmanns Held findet sie nicht, irrt verzweifelnd durch Walburgs Nummern-Revue, die auf dieser Bühne Deutschland darstellt. Weiter so, „noch ein Musical“, feuern ihn zwei Musiker (Charlotte Simon, Zink Tonsur) an, die auf einem Balkon über der Bühne schwebend mit immer neuen elektronischen Klängen die große Suche unterstützen. Doch irgendwelche Antworten, irgendetwas zu Ende Gedachtes gibt es in Stockmanns Verzweiflungsepos nicht. Und Walburgs Inszenierung versucht zum Glück nicht klüger zu sein als der Text, sondern fügt eine ganz eigene, surreale Atmosphäre hinzu, wie mit einem Chor grauer Tauben.

Am Ende landet der ehemalige Topangestellte der Deutsche Bank auf einer Parkbank und plaudert mit einer Art irrer Kleiner-Muck-Persiflage (Beatrice Frey mit Turban und angeklebten Bart): „Sie haben hier nur auf der Bank gesessen und ein bisschen Wirtschaftsbetrug gemacht, ein bisschen pubertäres Selbstmitleid gehabt. Das ist alles.“ Das stimmt, aber die kollektive Ratlosigkeit nicht mit einfachen Antworten zu überspielen, sondern eben dieses Unbehagen ins Zentrum der Inszenierung zu rücken, ist mutig. So entlarvt die Inszenierung von Lars-Ole Walburg das Geflecht aus gefühltem Antikapitalismus und scheinbar einfachen Erklärungen am Beispiel eines Systemaussteigers, der von eine besseren Welt träumt und doch keinen Schritt in eine neue Richtung finden kann. ALEXANDER KOHLMANN